LSBTI-Geflüchtete in Deutschland

Die Zielgruppe der Geflüchteten mit LSBTI-Hintergrund hat seit Beginn der Flüchtlingskrise 2015 kaum wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit erfahren. Wer sich nicht selbst im Kontext von LSBTI-bezogenen Themen aufhält und mit ihnen arbeitet, erfährt durch die tägliche Berichterstattung nur selten etwas über diese Randgruppe. Dementsprechend gibt es bisher nur wenig Literatur und Forschung bezüglich des Themas.

Inzwischen veröffentlichen LSBTI-Organisationen und Dachverbände stetig Berichte, Handreichungen und Politikempfehlungen und steigern damit die öffentliche Wahrnehmung auf das Thema. Die Veröffentlichungen helfen, die Belange dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe präsenter zu machen, Einblicke in die Problemlagen der „doppelt Diskriminierten“ zu geben und politische Empfehlungen und Sensibilisierungsmaßnahmen auszusprechen.

Da nicht jeder LSBTI-Geflüchtete die eigene sexuelle Identität einzuordnen weiß oder sich nicht überwinden kann, sie den Ämtern, Organisationen, Beschäftigten der Geflüchteten-Unterkünfte und Ehrenamtlichen mitzuteilen, ist die Zahl derer, die fliehen und eine nicht-heterosexuelle Orientierung haben, kaum schätzbar. Es wird davon ausgegangen, dass ca. fünf Prozent der Geflüchteten sich als LSBTI einstufen lassen (Arbeiter-Samariter-Bund NRW e.V. 2016: 5). Der Großteil der LSBTI-Geflüchteten kommt aus Herkunftsländern, in denen sie aufgrund ihrer sexuellen Identität missachtet und verfolgt werden. Dementsprechend hoch ist die Hürde, ihre sexuelle Identität im Ankunftsland preiszugeben. Anders als in Deutschland, wo Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit offen gelebt werden darf und es den rechtlichen Status einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gibt, existiert in 76 Staaten immer noch das homophobe Strafrecht. Im Iran, in Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien, dem Sudan und Teilen von Nigeria und Somalia steht auf homosexuelle Handlungen sogar die Todesstrafe (ebd.: 40).

Um in Deutschland Asyl gewährleistet zu bekommen, müssen die LSBTI-Geflüchteten in ihrer Anhörung beim Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (BAMF) glaubhaft machen können, dass sie eine lesbische, schwule, bisexuelle oder transsexuelle Identität in sich tragen und sich (auch) deshalb in ihrem Heimatland nicht mehr sicher fühlen. Haben sich die LSBTI-Geflüchteten in ihrer ersten Anhörung nicht getraut ihre sexuelle Identität preiszugeben, war es bis zum Herbst 2014 noch möglich, ein späteres Outing als unglaubwürdig anzusehen und ihnen deshalb kein Asyl zu gewähren. Dieses Gesetz änderte der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2014, da sich ein sofortiges Outing der LSBTI-Geflüchteten als nicht zumutbar erwies. Ebenso durfte seit der Gesetzesänderung keine „würdeverletzende Ausforschung“ (BLSB, 2016: 4) im Sinne der Schilderung sexueller Praktiken, dem Zeigen intimer Fotos und Videos oder der Durchführung medizinischer Tests, betrieben werden. Eine weitere Erschwernis während der ersten Anhörungen kommt hinzu, wenn die herangezogenen Dolmetscher des BAMFs die LSBTI-Belange inadäquat übersetzen oder sich weigern, sexuelle Details der Geflüchteten wiederzugeben. Im Falle dessen können die LSBTI-Geflüchteten einen eigenen Dolmetscher anbieten, sich das Gesprächsprotokoll rückübersetzen oder sich von einer Begleitperson unterstützen lassen, die sich rechtlich für sie einsetzen kann (ebd.: 13).

Die Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität ist mittlerweile ein anerkannter Asylgrund im Grundgesetz. Dennoch war es bis 2013 die Regel, dass deutsche Behörden und Verwaltungsgerichte dafür plädierten, die LSBTI-Geflüchteten in ihr Herkunftsland zurückzuweisen mit der Empfehlung, ihre Sexualität unter Geheimhaltung zu lassen. Auch dieses Vorgehen kippte der Europäische Gerichtshof 2013 (ebd.).

Während der ersten (maximal) sechs Monate sind die LSBTI-Geflüchteten in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht. Nicht selten werden sie dort und in folgenden Unterbringungen mit ihrer sexuellen Identität konfrontiert und gedemütigt. Im Zusammenleben mit anderen, meist patriarchal und stark religiös geprägten Kulturkreisen kann es dann zu Konflikten, Gewalttaten und sexuellen Übergriffen gegen die LSBTI-Geflüchteten kommen. Auch die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, sowie das Sicherheitspersonal in den Geflüchteten-Unterkünften dürfen keine homophoben Handlungen gegen die LSBTI-Geflüchteten zulassen und sollten – laut Forderungen von LSBTI-Organisationen – selbst als Vorbild fungieren. Hierfür werden zunehmend Sensibilisierungsmaßnahmen in den Unterkünften angeboten. Aufgrund der steigenden Zahl von Übergriffen auf die LSBTI-Geflüchteten wurden sie im Mai 2016 als besonders schutzbedürftig eingestuft und – je nach Möglichkeit der Kommune – in speziellen LSBTI-Unterkünften untergebracht (ebd.: 21).

Die aufgezählten Problematiken strapazieren neben den Geflüchteten auch die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, die in Flüchtlingskontexten arbeiten und vorher vielleicht noch nie in Kontakt mit dem Thema LSBTI gekommen sind. Neben den bereits erwähnten Handreichungen einzelner LSBTI-Verbände, veröffentlichte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ein umfassendes Trainingspaket zur Aufklärung und Sensibilisierung für das Thema (hier: http://www.unhcrexchange.org/topics/15810).

Ein wesentlich kleinteiligerer, auf ausgewählte NRW-Kommunen beschränkter Blick auf die Herausforderungen in der Arbeit mit LSBTI-Geflüchteten bietet der vorliegende Beitrag. Er zeigt anhand von Interviews mit ehrenamtlich Helfenden und LSBTI-Organisationen, mit welchen Schwierigkeiten die Mitarbeitenden aus LSBTI-Netzwerken und Vereinen zu kämpfen haben und welche Lösungsvorschläge gemacht werden, um den Geflüchteten einen sicheren Ort für ihre sexuelle Identität geben zu können.

Für unsere Forschung führten wir im Zeitraum von Ende Juli bis Anfang September 2016 insgesamt sechs Interviews mit ehren- und hauptamtlich Helfenden der LSBTI-Arbeit. In den ca. 60-minütigen Interviews sprachen wir mit Personen, die selbst schwul oder lesbisch sind und deshalb einen persönlichen Bezug zum Thema LSBTI haben. Drei der Interviews führten wir mit ehrenamtlich Helfenden, die sich in losen Netzwerken für die Unterstützung von LSBTI-Geflüchteten einsetzen. Einer von ihnen lebt in Köln und engagiert sich in einer Initiative, die sich für die Belange und die Vernetzung von LSBTI-Geflüchteten einsetzt. Er selbst teilt schon ein zweites Mal seinen Wohnraum mit einem schwulen Geflüchteten und unterstützt ihn bei alltäglichen Aufgaben. Die zwei weiteren Ehrenamtlichen sind aktive Mitglieder einer ca. 100-köpfigen Facebook-Gruppe zur Unterstützung LSBTI-Geflüchteter in Dortmund. Sie betreuen Einzelpersonen und Paare bei Amts- und Behördengängen, sorgen sich um die Teilhabe der Geflüchteten im deutschen Bildungssystem, helfen ihnen bei der Suche nach sicherem Wohnraum und verbringen ihre Freizeit mit ihnen.

Die drei hauptamtlich Helfenden arbeiten in LSBTI-Organisationen, deren Beratungs- und Unterstützungsangebot sich nach und nach auf LSBTI-Geflüchtete ausgeweitet hat. Die Bochumer Beratungsstelle hat ein wöchentlich stattfindendes Angebot für LSBTI-Geflüchtete zwischen 14 und 27 Jahren eingerichtet. Der Treff bietet einen geschützten Raum zum Austausch, für Freizeitaktivitäten und die Vernetzung der Geflüchteten untereinander. Ähnliches bietet die Mülheimer Beratungseinrichtung an. In einem mehrmals wöchentlich geöffneten Jugendcafé oder in persönlichen Gesprächen können sich die LSBTI-Geflüchteten den Hauptamtlichen anvertrauen und neue Kontakte zur LSBTI-Community knüpfen. Das Düsseldorfer Jugendzentrum für LSBTI betreut ebenfalls geflüchtete Jugendliche, die sich einer nicht-heterosexuellen Identität zugehörig fühlen. In dem Jugendzentrum können die jungen Erwachsenen das persönliche Gespräch mit den Hauptamtlichen suchen, aber auch einfach an den vielen Veranstaltungen, Festen und Aktivitäten des Jugendzentrums teilnehmen.

Der nachfolgende Beitrag gliedert sich in vier Unterthemen auf. Diese orientieren sich an inhaltlichen Schwerpunkten, die in den Interviews besonders stark gemacht wurden und uns Antworten auf die Forschungsfrage „Welche Herausforderungen entstehen in der ehren- und hauptamtlichen Arbeit mit LSBTI-Geflüchteten?“ geben. Im Unterthema Die Unsichtbaren wird sich dem Problem der Erreichbarkeit der versteckt lebenden LSBTI-Gruppe gewidmet. Es werden u.a. die Frauen als „doppelt unsichtbare“ Gruppe betrachtet und Empfehlungen gegeben, wie Mitarbeitende von Geflüchteten-Unterkünften den „Unsichtbaren“ Orientierung geben und Hilfe leisten können. Im nächsten Abschnitt wird Das starke Netzwerk der LSBTI-Organisationen und -vereine, aber auch der Geflüchteten untereinander betrachtet. Es werden die Vorteile der kommunalen Vernetzung des LSBTI-Netzwerks präsentiert, die zeigen, dass das NRW-Netzwerk in seiner Unterstützungsarbeit für LSBTI-Geflüchtete gut aufgestellt ist. Im weiteren Verlauf des Beitrags wird sich dem Thema der LSBTI-Geflüchteten als Die Identitätssuchenden zugewendet. Hier wird sich, anknüpfend an das erste Thema der (Un)sichtbarmachung ihrer Identität, mit Fragen zur Identitätsfindung im Heimatland und im Ankunftsland Deutschland beschäftigt. Unter dem Blickwinkel der Intersektionalitätstheorie widmet sich das letzte Unterthema den Doppelt-Diskriminierten und ihren – in mehrfacher Hinsicht – erfahrenen Benachteiligungen.

Die Unsichtbaren

Die (Un)sichtbarkeit von LSBTI-Geflüchteten offenbart sich in einem ständigen Konflikt, dem die Geflüchteten ausgesetzt sind. Zum einen kann ihnen mit der Offenlegung ihrer Sexualität ein sicheres Asyl und ein besonderer Schutzraum gewährleistet werden. Zum anderen werden sie dadurch auch angreifbar für Anfeindungen aus einer heteronormativen Gesellschaft – sei es durch Übergriffe ihrer eigenen Landsleute in den Geflüchteten-Unterkünften oder durch homophob eingestellte Beschäftigte in den Ämtern und Behörden. Bei Sichtbarmachung ihrer Sexualität können sie mit Unterstützung durch entsprechende Hilfsorganisationen und -vereine rechnen, müssen aber zu oft auch diskriminierende Situationen in homophoben Umgebungen aushalten.

Bei beabsichtigter oder unbeabsichtigter Sichtbarmachung ihrer sexuellen Identität können Misshandlungen in den Wohnunterkünften die Folge sein. Diese ergänzen oft die traumatischen Erlebnisse, die den Geflüchteten in ihrem Herkunftsland widerfahren sind. Eine Interviewte berichtet: „Also ich habe ehrlich gesagt noch niemanden aus dem Camp gehört, der gesagt hat: ‚Ich habe mich geoutet. Das war überhaupt kein Problem.‘“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Die Sichtbarmachung ihrer Identität hat an diesem Punkt ihre größte Negativauswirkung. Auf die Problematik der LSBTI-Geflüchteten in den Wohnunterkünften soll im Teil Die Doppelt-Diskriminierten näher eingegangen werden.

Um den Geflüchteten zu helfen, ihre sexuelle Identität sichtbar zu machen, betonen alle Interviewten die Wichtigkeit, den LSBTI-Geflüchteten zu zeigen, dass sie in Deutschland und der jeweiligen Kommune offen mit ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität umgehen dürfen. Dazu gehöre als wichtigste Aufgabe die Sensibilisierung der Beschäftigten und Ehrenamtlichen in den Geflüchteten-Unterkünften. Seien es Regenbogenflaggen in den Büros der Beschäftigten oder Buttons auf ihrer Kleidung, die zeigen „LSBTI* welcome“ – um zu verdeutlichen, dass sich die LSBTI-Geflüchteten in ihrer Einrichtung an die Beschäftigten wenden können. Denn Symbole sind wichtig: „Dass sie Symbole dafür haben, dass sie eine Sprache haben. Dass sie sagen: ‚Ey, wir sind dafür offen.‘ Und sind es dann aber auch. Das ist wichtig, ne? Also das Schlimmste ist ja: Hängst eine Regenbogenflagge auf und wenn jemand kommt, weißte dann nicht wo, was du da machen sollst. […] Diese Person wird sich vielleicht nie wieder trauen irgendwo anzufragen.“ (ebd.) „Es ist so ein kleines Symbol, damit sag ich jemandem, den das betrifft: ‚Hallo, ich bin ansprechbar.‘ Ich sag aber auch, selbst wenn es den anderen nicht betrifft: ‚Hallo, das gehört zu unserem Land, […] das gehört zu unserer Kultur. […] Wir als Einrichtung, wir stehen dazu.‘“ (ebd.) Dass die Sensibilisierungsworkshops für die Mitarbeitenden der Einrichtungen eine weitere, überfordernde Aufgabe sein kann, erkennen die LSBTI-Organisationen (ebd.). Dennoch sei es wichtig, die Mitarbeitenden der Geflüchteten-Unterkünfte als wichtige Multiplikatoren miteinzubeziehen. Über sie können die LSBTI-Geflüchteten an jeweilige LSBTI-Organisationen, -vereine und ehrenamtlich Helfende vermittelt werden.

Ist der homo- oder transsexuelle Geflüchtete in einem weiteren Schritt bereit, sich einer LSBTI-Organisation oder einem Ehrenamtlichen zuzuwenden, kann ihm viel Unterstützung versprochen werden. Dafür braucht es zuerst jedoch Vertrauensarbeit. Ihre sexuelle Identität einer fremden Person anzuvertrauen ist für die meisten Geflüchteten eine große Überwindung, da sie diesen Teil ihrer Identität bisher selten oder nie sichtbar machten – aus Angst vor negativen Konsequenzen. Teilweise kann ein erster schriftlicher Kontakt helfen, um sich langsam dem jeweiligen ehrenamtlich oder hauptamtlich Helfenden zu öffnen. Ein Düsseldorfer Jugendzentrum bietet den Jugendlichen deshalb an, erste Fragen und Unsicherheiten per Email zu klären. Dann kann es immer noch der Fall sein, dass bis zu 30 Mails ausgetauscht werden und die Jugendlichen sich dennoch nicht trauen, persönlich im Jugendzentrum vorbeizuschauen. Da die LSBTI-Geflüchteten für die helfenden Organisationen, Vereine und ehrenamtlich Helfenden aber nicht sichtbar sind, können diese nur als Anlaufstelle für die schutzbedürftige Gruppe fungieren. Aufgesucht werden müssen sie von den Geflüchteten selber.

Nach Herstellung des Erstkontakts, kann der LSBTI-Geflüchtete verschiedene Wege gehen, um sich einer neuen „Community“ zuzuwenden und seine sexuelle Identität jemandem mitzuteilen. Das können die schon erwähnten persönlichen Beratungsgespräche mit Ansprechpartnern einer LSBTI-Organisation sein oder niedrigschwellige Angebote wie offene LSBTI-Cafés und Treffs, in denen andere Jugendliche und Erwachsene mit LSBTI-Hintergrund regelmäßig zusammenfinden. „Menschen brauchen diese Rückzugsorte, in denen sie einfach mal nicht komisch angeguckt werden.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Auf die Haupt- und Ehrenamtlichen als unterstützende Kraft bei der Identitätssuche der Geflüchteten soll im Abschnitt Die Identitätssuchenden näher eingegangen werden.

Diese Rückzugsorte, so sind sich alle Interviewten einig, sollten im ersten Schritt auch sichere Wohnunterkünfte sein. Einige Ehrenamtliche und Beschäftigte aus LSBTI-Organisationen fordern geschützte Unterbringungen nur für LSBTI-Geflüchtete. Das könnten beispielsweise staatlich geförderte Wohngruppen sein (ebd.), deren Adressen zum Schutz der Geflüchteten anonym gehalten werden. Dieses Modell ist aber nicht in jeder Kommune umsetzbar. So erzählt ein Ehrenamtlicher – er selbst hat in seiner Kölner Wohnung schon zwei homosexuelle Geflüchtete aufgenommen – dass der knappe Wohnraum in Köln ein großes Problem sei (Interview Köln 16.08.2016: LSBTI Geflüchtete). Ebenso sieht er in einer Gemeinschaftsunterkunft der LSBTI-Geflüchteten nicht die beste Lösung: „Wir haben hier im Einvernehmen mit der Stadt Köln […] das Konzept der dezentralen Unterbringung. Weil so die Ghettobildung vermieden werden soll, denke ich. Und man ist nicht angreifbar. Man ist nicht sichtbar als Gruppe für gegebenenfalls Anschläge von Rechts oder aus der islamistischen Ecke.“ (ebd.) Ein anderer Ehrenamtlicher aus Dortmund half einem homosexuellen Paar bei der Wohnungssuche. Als er dem Vermieter erklären musste, warum er die Wohnung für die beiden Männer haben wolle, kam es zum Fremdouting: „Ich muss dann halt abwägen. Wollen die jetzt raus aus der Scheiße der Erstaufnahmeeinrichtung […], wollen sie jetzt in Frieden dann irgendwo leben? Dann entscheiden wir uns dann doch für das in Frieden irgendwo leben. Trotz des Outens.“ (Interview Dortmund1 22.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Die Sichtbarmachung der Identität der LSBTI-Geflüchteten ist immer ein Wagnis. Doch oft kann es ihnen helfen und ihre persönliche Lage verbessern.

Dennoch gibt es Geflüchtete, die die besondere Unterstützung und den sicheren Asylanspruch für sich nutzen, ohne eine homo- oder transsexuelle Identität in sich zu tragen. Diesen Betrugsversuchen sind auch die Ehrenamtlichen ausgesetzt, wie einer der Interviewten berichtet. Er selbst findet jedoch Verständnis für die Lage der Geflüchteten: „[…] wenn ich selber in einer Situation wäre, wenn ich wüsste, ich suche einen Weg, um nicht dahin zurückzukehren, wo ich nicht hinmöchte, versuch ich natürlich verschiedene Wege aufzumachen.“ (Interview Dortmund2 07.09.2016: LSBTI Geflüchtete) Ebenso argumentiert er, würde er den Betrugsversuch irgendwann bemerken: „[…] ich denke, das versuchen viele, aber das halten sie nicht durch […]. (ebd.) Ein schwules Pärchen, welches der Ehrenamtliche betreut, sei immer noch vorsichtig beim Sichtbarmachen ihrer Sexualität: „[…] die sind sehr vorsichtig, weil die das einfach nicht gewöhnt sind, aber wenn sie dann doch mal nicht beobachtet werden […], dann gibt’s auch Zärtlichkeiten. Auch wenn sie denken, ich sehe es nicht. […] wenn der das inszenieren würde, der würde das immer nur auffällig zeigen, aber nicht, wenn keiner es sieht. (ebd.) An diesem Beispiel zeigt sich, wie mit der absichtlichen Sichtbarmachung einer LSBTI-Identität gespielt werden und sie für persönlichen Vorteil ausgenutzt werden kann.

Eine Personengruppe, die überwiegend unsichtbar bleibt und die aufzusuchenden Stellen der LSBTI-Organisationen und -vereine kaum nutzt, sind geflüchtete lesbische Frauen. Im Vergleich zu männlichen homo- oder transsexuellen Geflüchteten gelten sie als doppelt unsichtbar. Ein Grund, weshalb sie in den offenen Treffs und Beratungseinrichtungen kaum vertreten sind, hängt zum einen damit zusammen, dass sie prozentual weniger im Flüchtlingsstrom nach Deutschland gekommen sind als Männer. Zum anderen wurden die meisten von ihnen früh zwangsverheiratet und leben in familiär konservativen Strukturen, die es ihnen schwermachen, sich zu einer nicht heterosexuellen Identität zu bekennen. Eine Interviewte erzählt, dass es für manche Frauen sogar ein Glück sei, wenn ihre Familie in anderen Regionen untergebracht sei und sie nun die Chance bekommen würden, ihre eigentliche Sexualität auszuleben: „Die Familien sind irgendwo anders gelandet, in anderen Ländern. Und die können hier frei leben. Aber sobald die Familien mit hier leben, würde das auch für die [Frauen] wieder einen Umschwung bedeuten.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Ein Interviewter des Jugendzentrums merkt an, dass die Gruppe schutzbedürftiger lesbischer Frauen unterschätzt werde und sie zu wenig in den Fokus gerückt werden würde. Gleichzeitig sieht er aber auch, dass lesbische Frauen noch weniger sichtbar seien als schwule oder transsexuelle Männer: „Und ich glaube, das ist auch genau das Problem bei den lesbischen Frauen. Dass man halt keine so erkennbaren Zeichen bekommt, dass sie lesbisch sind. […] Und deswegen ist es auch schwierig zu erkennen. Also wenn du selbst nicht aktiv bist und nach Anlaufstellen suchst für Homosexuelle, dann findest du vielleicht auch nicht die, aber ich glaube halt also bei manchen Menschen kann man das schon sehen oder vielleicht, dass man das vermuten könnte. Das könnte ein Thema für ihn oder sie sein. Und dann kann man […] das schon erleichtern, dass die Leute vielleicht hierhin gewiesen werden oder dass die hierhin finden. Auch zu dem Verhalten, das was [man] hier dann ändern kann ist halt, dass du das erste Mal in deinem Leben andere Homosexuelle siehst oder auch Transsexuelle siehst und verstehst vielleicht viel mehr, was du eigentlich sein könntest in deinem Leben. Wie du dich kleiden kannst und darfst oder wie du dein Leben gestalten kannst, wenn du willst.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Solch wirksame Selbsterkenntnisse können Frauen aber nur dann erfahren, wenn sie einer Vertrauensperson ihre sexuelle Identität anvertrauen. Und für diesen Schritt bedarf es oft mehr Mut und Loslösekraft aus der Familie als bei homo- oder transsexuellen Männern.

Das starke Netzwerk

Das Netzwerk der Organisationen, die sich in ihrer Arbeit mit lesbischen, schwulen, bi- und transsexuellen Geflüchteten auseinandersetzen, ist sehr engmaschig und persönlich. In jedem der Interviews wurde die gute Vernetzung und Absprache der LSBTI-Organisationen und Ehrenamtlichen untereinander betont. Durch kurze Kommunikationswege innerhalb des Netzwerks können beispielsweise LSBTI-Geflüchtete zu unterschiedlichen Beratungsstellen übermittelt, gemeinsame Demonstrationen veranstaltet und anstehende Probleme in der LSBTI-Arbeit in Zusammenarbeit angegangen werden. Beispielhaft hierzu erzählt ein Ehrenamtlicher aus Dortmund von der dortigen guten Netzwerkarbeit. Als er im Urlaub gewesen sei und für die von ihm betreuten LSBTI-Geflüchteten nicht erreichbar sein konnte, wusste er sie sofort in sichere Hände zu geben: „Und das ist das Gute, dass es das Netzwerk gibt hier in Dortmund, dass man sagt: ‚Okay, könnt ihr diese Aufgabe für diesen Zeitpunkt übernehmen?‘“ (Interview Dortmund2 07.09.2016: LSBTI Geflüchtete) Besonders die lose organisierten LSBTI-Gruppen, die größtenteils aus Ehrenamtlichen bestehen, profitieren von der Arbeit im Netzwerk mit institutionell organsierten LSBTI-Einrichtungen: „[…] wir sind ja eine relativ kleine Gruppe, aber wir kooperieren mit den beiden großen Flüchtlingsgruppen, die in Dortmund aktiv sind. […] Und wenn es irgendwie hier juristische Rechtsberatung gibt oder auch bei der Wohnraumsuche oder Möbelsuche, dann kooperieren wir mit denen auch. Weil wir dafür einfach zu klein sind.“ (ebd.) In der Arbeit mit LSBTI-Geflüchteten zeigt sich, dass ein Netzwerk aus losen und fest etablierten Organisationen sehr wirksam sein und gegenseitige Unterstützung versprechen kann.

Der Großteil der LSBTI-Organisationen hat sich nicht erst im Rahmen der Flüchtlingskrise gegründet, sondern hat seine schon bestehende Anlaufstelle für LSBTI-Personen um weitere Maßnahmen speziell für LSBTI-Geflüchtete ergänzt. Das hat den Vorteil, dass eine institutionelle Struktur schon vorhanden und diese im kommunalen Raum etabliert ist. Den Nutzen kommunaler Verflechtungen bei bestimmten Problemlagen LSBTI-Geflüchteter erkennt auch ein Interviewter aus Düsseldorf: „[…] da sind wir natürlich eng vernetzt mit anderen Beratungsstellen. Wenn man psychische Probleme hat, wenn man Suchtprobleme hat, wenn man […] Gewalt in der Familie oder solche Fälle [hat]. Also da sind wir eng mit Ämtern, Polizei, Beratungsstellen in Kontakt, also können wir immer dann so viel versuchen.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) So zeigt sich, dass das Netzwerk nicht nur intern gut vernetzt ist, sondern auch mit anderen kommunalen Beratungsstellen und Ämtern eng verknüpft arbeitet.

Je breiter das Netzwerk gestreut ist, desto flächendeckender kann kommuniziert, über die Angebote der einzelnen LSBTI-Organisationen informiert und an sie vermittelt werden. Das zeigt auch das nächste Beispiel, in dem das Netzwerk als Arbeitsvermittler diente, als ein Unterstützungsangebot aus der Gesellschaft kam. Ein Interviewter aus Köln berichtet, dass eine Kölner Modedesignerin zwei Schneider gesucht habe, woraufhin sich der Ehrenamtliche an sein Netzwerk wand: „Und da habe ich ca. 50 Institutionen in Köln, also Caritas, AWO, […], ich habe ja so eine Liste von Flüchtlingswillkommensinitiativen und -unterstützungen und so weiter, und da habe ich eine Rundmail geschickt und jetzt hat sie zwei Schneider und eine Stickerin und alle sind happy und sind auch Freudentränen geflossen.“ (Interview Köln 16.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Nicht nur die LSBTI-Organisationen vernetzen sich untereinander und pflegen einen regelmäßigen Informationsaustausch zu kommunal wichtigen Akteuren. Auch die LSBTI-Geflüchteten wissen sich schnell auszutauschen, sobald sie in ihrer „Community“ angekommen sind: „Die haben alle ein Smartphone oder ein Iphone oder irgendein Phone. Und da wird ständig getippt und […] da werden Tipps untereinander ausgetauscht. Die haben zur […] Schwulen-Szene haben die schnellen Kontakt. Die wissen genau wo was ist“ (ebd.) Durch den unverzüglichen Kontakt zur eigenen LSBTI-Community können schließlich auch Tipps ausgetauscht und einzelne Anlaufstellen weiterempfohlen werden. Eine Interviewte erzählt hierzu: „Die haben natürlich ihre eigenen Netzwerke, die sind ja super vernetzt untereinander, ne? Die bringen natürlich immer wieder neue Leute mit, bleiben dann aber auch selbst, ne?“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Dadurch sprechen sich einzelne Anlaufstellen der LSBTI-Organisationen rum, sodass diese immer weiterwachsen und noch mehr LSBTI-Geflüchtete erreichen können.

Die Identitätssuchenden

Anknüpfend an das Thema der Unsichtbar- und Sichtbarmachung der LSBTI-Identität und dessen Folgen, widmet sich das nächste Thema der Identitätssuche der LSBTI in ihrem Heimatland und im Ankunftsland Deutschland. Dabei werden die Konflikte mit den eigenen Landsleuten und der Familie betrachtet, sowie die identitätsfördernde Rolle der ehren- und hauptamtlich Helfenden herausgestellt.

Da Homosexualität in den meisten Heimatländern der Geflüchteten ein Tabuthema ist, hatten die Geflüchteten häufig keine Gelegenheit, ihre Sexualität als Teil ihrer Identität zu leben. Für viele scheinen Identitäten außerhalb der Heteronormativität nicht einmal im Bereich des Möglichen zu liegen. „Die Selbstdefinition existiert gar nicht.“ (Interview Bochum 27.07.2016: LSBTI Geflüchtete), sagt dazu eine Interviewpartnerin. Die Aufgabe der Ehrenamtlichen beginnt daher häufig erst, wenn die Menschen sich diesem Teil ihrer Identität bewusst sind oder im Prozess sind, sich dieser bewusst zu werden. Selbst wenn sie sich zu ihrer Homosexualität bekennen, ist es ein großer Schritt, sich zu outen – und sei es nur im geschützten Rahmen einer LSBTI-Organisation. „[…] gerade die, die bei uns dann letztlich auch landen, für die ist schon ihre sexuelle Identität ein ganz großes Ding […] ein ganz großes Thema.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Im bereits dargestellten Netzwerk der LSBTI-Organisationen haben viele der Geflüchteten die Möglichkeit „wahrscheinlich auch das erste Mal so die eigene Identität, zumindest diesen Teil der Identität […] selbstverständlich zu leben.“ (ebd.) Ihnen bei ihrer Identitätsfindung Unterstützung zu leisten ist daher eine der Aufgaben, die Ehren- und Hauptamtliche erfüllen, wenn sie mit LSBTI-Geflüchteten arbeiten. Dabei müssen sie helfen, den Geflüchteten LSBTI Antworten auf Fragen zu finden, die weit über Probleme mit Ämtern oder Deutschkursen hinausgehen: „Einerseits ‚wer bin ich? Was mach ich hier, warum bin ich hier?‘ Und dann: ‚wer möchte ich sein?‘“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Dabei hilft es auch, wenn sie in ein Netzwerk integriert sind, das die Organisationen bieten können. „Die bekommen […] neue Freunde, neue sozialen Leben vielleicht, also andere Jugendliche, die gleich denken wie sie, die auch homosexuell oder transsexuell sind, das ist also eine ähnliche Identität.“ (ebd.), berichtet ein Interviewter, als er vom Nutzen seiner Arbeit für die Geflüchteten spricht. Eine andere Interviewpartnerin beschreibt die Erfahrung der Geflüchteten, wenn sie zu einer LSBTI-Community stoßen, wie folgt: „[…] dass der erst mal das Gefühl haben kann: ‚Krass! Ich sitz hier mit Leuten zusammen, die GENAUSO sind wie ich.‘“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Hilfe leisten die Ehrenamtlichen häufig dadurch, dass sie sich als Ansprechpartner zur Verfügung stellen und auf diese Weise Zugang zu LSBTI-relevanten Informationen liefern. So sind die Befragten durchaus schon einmal die erste Person, der von der Homosexualität erzählt wird: „dass sie auch noch nie mit einer anderen Person darüber geredet haben.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Ein anderer Ehrenamtlicher teilt nicht nur seinen privaten Wohnraum mit ihnen, sondern begleitet die Geflüchteten auch bei Behördengängen, erledigt die vielen bürokratischen Aufgaben, übt Hobbys mit ihnen aus und zeigt ihnen die schwule Kölner Kultur- und Partyszene. Damit lebt er ihnen vor, wie selbstverständlich sie ihre Identität sichtbar machen dürfen und dass sie sich in ihrem Ankunftsland gut aufgehoben fühlen dürfen.

Die Identitätssuche der Geflüchteten wird von vielen Unsicherheiten begleitet. Da es in den Heimatländern meist ein Tabuthema war oder es gar keinen Sexualkundeunterricht gab, haben gerade Jugendliche auch Fragen zum Thema Sex und Coming Out. Zusätzlich kämpfen sie mit einer fremden Kultur und ebenso fremden Gesetzen. „[…] da ist sicher eine große Unsicherheit auch da, […], wie sind homosexuelle Menschen positioniert in [der] deutschen Gesellschaft allgemein.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) So müssen die neu Angekommenen erst einmal erfahren können, dass sie in Deutschland mit ihrer Identität viel freier leben können, als in ihrem Herkunftsland: „Und dann, nachdem man alles jahrelang unterdrücken musste, ne? PENG, hier in Köln. […] Da geht ja ALLES wunderbar.“ (Interview Köln 16.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Wichtig ist jedoch nicht nur, dass Helfende als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, sondern auch, in welchem Rahmen Gespräche über die sexuelle Identität der LSBTI-Geflüchteten stattfinden können. So ist der Schutzraum ein ständig wiederkehrendes Motiv in allen Interviews. Damit ist in dem Fall nicht nur der geschützte Wohnraum gemeint, sondern auch ein Raum – meist gestellt von den LSBTI-Organisationen –, in dem sich Menschen öffnen können, ohne negative Konsequenzen zu erfahren. Besonders bei Geflüchteten, die in Massenunterkünften oder in einer Umgebung, in der sie große Angst haben, sich zu outen, leben, ist eine solche Möglichkeit wichtig: „[…] die Situation in den Unterkünften ist ja auch nicht gerade persönlichkeitsförderlich. Und dann brauchen die auch mal eine Auszeit.“ (Interview Bochum 27.07.2016: LSBTI Geflüchtete) Häufig ist für sie dieser Schutzraum daher der einzige Ort, an dem sie geoutet sind. Wie schon in der Einführung dieses Beitrags erwähnt, bieten die LSBTI-Organisationen deshalb Treffpunkte speziell für Geflüchtete LSBTI an. Ein Interviewpartner aus Düsseldorf erzählt, dass sein Jugendzentrum gesonderte Treffen für einen intensiveren Austausch anbietet: „[…] in diesem kleinen Raum, wo man auch geschützter ist, also da hat man keine Fenster direkt.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Der hier beschriebene Raum ist so geschützt, dass er keinerlei Einsichten von außen zulässt. Gestaltet wurde er von den LSBTI-Jugendlichen, sodass diese sich in den Gesprächssituationen möglichst wohl fühlen können. „[…] ich bin sehr glücklich, dass wir diesen Raum in diesem Zentrum hier haben, um einen Schutzraum für homosexuelle und transsexuelle Jugendliche zu haben, wo sie ohne Diskriminierung leben können.“ (ebd.) Auch die Interviewpartnerin aus Mülheim betont die Wichtigkeit eines solchen Angebots: „[…] dass diese Menschen hier einfach einen guten Ort für sich brauchen. Und ich eine von UNGLAUBLICH vielen sein möchte, die […] den Ort schafft oder bietet und ihnen diesen Raum gibt.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Die Doppelt-Diskriminierten

Im Folgenden werden Situationen beschrieben, in denen die LSBTI-Geflüchteten außerhalb der genannten Schutzräume sind und Diskriminierungen widerfahren, denen sie sich nur schwer zu widersetzen wissen. Theoretisch erklärt werden die persönlichen Diskriminierungserfahrungen mit der Theorie der Intersektionalität. Nach dieser sind Individuen nicht mehr anhand einer Zugehörigkeit klassifizierbar, zum Beispiel dem Status als Asylsuchender. Stattdessen wird bei diesem Ansatz multiple Diskriminierung in den Fokus genommen. Dabei wird von einer Interdependenz der sozialen Zugehörigkeit und der daraus folgenden Benachteiligung ausgegangen. Die Theorie ist deshalb für unsere Forschung interessant, da LSBTI-Geflüchtete andere Diskriminierungserfahrungen machen und Benachteiligungen erfahren, als Geflüchtete, die nicht zu dieser Gruppe gehören. Ein Ehrenamtlicher beschreibt die psychische Belastung (Zur psychologischen Betreuung von Geflüchteten vgl. Psychologische Betreuung Geflüchteter), der von ihm betreuten homosexuellen Geflüchteten im Vergleich mit anderen, folgendermaßen: „Die haben […] häufiger noch Nervenzusammenbrüche, die haben häufiger noch schlimmere traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Die jetzt […] obendrauf auf das Fluchterlebnis oder auf die Verfolgung in ihren Heimatländern drauf kommt.“ (Interview Dortmund1 22.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Für viele war die Verfolgung, die sie aufgrund ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität in ihrem Heimatland erfahren haben, bereits ein Fluchtgrund. Ein Interviewpartner aus Dortmund erzählt, sie seien „zwar auf der einen Seite […] aus Bürgerkriegsgründen gekommen […], aber auch gleichzeitig […] aufgrund ihrer Homosexualität in diesen islamischen Ländern […] sehr starken Restriktionen ausgesetzt.“ (Interview Dortmund2 07.09.2016: LSBTI Geflüchtete) Er betreut ein Paar aus Albanien, das geflüchtet ist, nachdem es auf der Arbeit beim Küssen erwischt wurde: „[…] und die Familien haben dann dort […], auch Brüder haben gedroht, wenn das wirklich stimmen würde, würden sie die umbringen.“ (ebd.)

Doch auch in Deutschland angekommen, haben die Geflüchteten LSBTI mit weiterer Diskriminierung zu kämpfen. Viele von ihnen leben auf engstem Raum mit Geflüchteten, von denen weitere Diskriminierungshandlungen ausgehen können. Eine Interviewte erklärt den Standpunkt der Geflüchteten LSBTI: „Wenn ich aus meinem Land flüchte, weil ich mit […] Menschen, die mich dort umgeben, die mit mir, so wie ich bin, nicht klarkommen, und ich lande hier mit denselben Leuten wieder im Zimmer, im schlimmsten Fall.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Ein Interviewpartner aus Dortmund erzählt, dass die Geflüchteten nach ihrer Ankunft „dann letzten Endes erstmal in ihre homophobe Umgebung in der Flüchtlingsunterkunft gesteckt worden sind.“ (Interview Dortmund1 22.08.2016: LSBTI Geflüchtete) „[…] solange du noch in der Unterkunft bist, bist du gefährdet!“ (Interview Bochum 27.07.2016: LSBTI Geflüchtete), fasst eine Interviewte aus Bochum zusammen. Für die Ehren- und Hauptamtlichen ist es daher wichtig, festzustellen, ob sich die von ihnen Betreuten in einer sicheren Wohnumgebung befinden. „[…] gerade auch gegenüber Landsleuten, die sie nicht kennen, öffnen sie sich nicht […]. Manche, die so mehr in Richtung Transgender gehen, bei denen ist es nicht zu übersehen. Die werden dann auch in den Heimen sehr angefeindet. Bis hin zu körperlichen Angriffen, Übergriffen, […] Vergewaltigungsversuchen.“ (Interview Köln 16.ß8.2016: LSBTI Geflüchtete), erzählt ein Ehrenamtlicher. Wie bereits im Abschnitt Die Unsichtbaren angerissen, ist auch für ihn die Frage nach sicherem Wohnen ein großes Thema. Der Wohnraum ist knapp und um aus der homophoben Umgebung in der Geflüchteten-Unterkunft herauszukommen, müssen sich die Betroffenen häufig outen, wozu viele nicht bereit sind. Auch das stellt die Helfenden vor Probleme: „Das ist ein Eiertanz, der für mich auch teilweise extrem stressig ist.“ (Interview Dortmund1 22.08.2016: LSBTI Geflüchtete), sagt ein Ehrenamtlicher, als es darum geht, ob er seine Schützlinge outet, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen.

Weitere Diskriminierungen können die LSBTI auch aus dem Netzwerk, das unter den Geflüchteten besteht, erfahren. Auch dieses kann ein Unsicherheitsfaktor sein. Weiß einmal jemand aus ihrem Umfeld über ihre Sexualität Bescheid, spricht sich das schnell herum, vertraut uns ein Interviewpartner nach Beenden der Aufnahme an. „Sie haben eigentlich Angst vor ihren eigenen Landsleuten.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Da es jedoch schwierig ist, Geflüchtete in einer eigenen Wohnung unterzubringen, bezahlt einer der Ehrenamtlicher aus Dortmund auch schon mal die Miete: „Und das endet letzten Endes […] auch bei der Wohnungsvermittlung und Wohnungsversorgung und auch Finanzierung von Wohnungen meinerseits.“ (Interview Dortmund1 22.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Doch nicht nur die Fremden in der Unterkunft oder Vertraute des eigenen Netzwerks sind ein Risiko. Viele der LSBTI sind mit ihrer Familie geflüchtet, die bereits Teil des homophoben Umfelds im Heimatland war. „Die Angst in der Unterkunft, weil DA sind die Leute aus der Herkunftsfamilie […] in dem Fall ist es der komplette Nachteil, weil die einfach nicht die Möglichkeit haben, da frei zu sein.“ (Interview Bochum 27.07.2016: LSBTI Geflüchtete) Wo andere Geflüchtete also Unterstützung bei der Familie suchen können, sind die LSBTI-Geflüchteten auf sich gestellt. „[…] und dann gibt’s halt geflüchtete Jugendliche, die mit Familie gekommen sind, wo das Thema noch viel strikter ein Geheimnis bleiben muss.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Wie bereits im Abschnitt Die Identitätssuchenden dargestellt, erfüllen in dem Fall die ehrenamtlich- und hauptamtlich Helfenden eine wichtige Funktion als Ansprechperson – eine Rolle, die das sonstige Umfeld der Betroffenen nicht übernehmen kann.

Obwohl Homosexualität in Deutschland nicht verfolgt wird, sind Zugehörige zur LSBTI-Gruppe ständig Diskriminierungen ausgesetzt. „Diskriminierung von Homosexuellen gibt’s ja IMMER.“ (Interview Mülheim 24.08.2016: LSBTI Geflüchtete) „Sobald du […] dich als schwules Paar, lesbisches Paar zu Erkennen gibst, wirst du Reaktionen kriegen […] In unserer Gesellschaft. […] Und die gehen von […] komischen Blicken bis hin zu offenen Anfeindungen.“ (ebd.) Diskriminierungen könnten dann weiter eingedämmt werden, wenn sich die gesetzliche Lage verbessern und LSBTI als gleichwertig zu anderen sexuellen Lebensweisen angesehen werden würde. So dürfen Homosexuelle in Deutschland noch immer nicht heiraten und haben in einer eingetragenen Lebensgemeinschaft weniger Rechte als ein Ehepaar: „[…] die rechtliche Lage von Homosexuellen allgemein ist in Deutschland nicht in den Kinderschuhen aber es ist noch nicht so weit, dass man darüber glücklich sein könnte.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete)

Auch das rechtlich festgelegte sichere Asyl für homosexuelle Verfolgte, scheitert oft noch an der Umsetzung und zeigt Diskriminierungstendenzen gegenüber den Geflüchteten LSBTI. So berichtet ein Ehrenamtlicher: „Es gibt dann so Flüchtlinge erster und zweiter Qualität. Die ersten, das sind die nicht sicheren Herkunftsländer und das sind eigentlich nur noch Syrien, Iran, Irak und in Afrika eins, […] Eritrea, glaub ich.“ (Interview Dortmund2 07.09.2016: LSBTI Geflüchtete) Das Problem sei – so erklärt ein anderer Ehrenamtlicher –, dass „manche Länder als sichere Herkunftsländer gestuft sind, obwohl die gar nicht so sicher für Homosexuelle sind.“ (Interview Düsseldorf 25.08.2016: LSBTI Geflüchtete) Für Geflüchtete, die aus einem angeblich sicheren Herkunftsland kommen, bedeutet dies die mögliche Abschiebung in eine homophobe Umgebung, wo im Falle eines Outings negative Folgen drohen: „Das macht es schwierig, weil immer wieder gesagt wird ja, den Schwulen, den geht es nicht so gut, aber so schlimm ist das ja alles nicht.“ (Interview Dortmund2 07.09.2016: LSBTI Geflüchtete)

Neben dem in der Praxis erkennbar unsicheren Asyl für Homosexuelle, sind auch politische Diskriminierungen durch die deutschlandweit vertretenen rechtspolitischen Strömungen erkennbar. Darin werden nicht nur LSBTI, sondern Geflüchtete allgemein in Deutschland nicht willkommen geheißen. Die Partei AfD beispielsweise erhält vermehrt Zustimmung (Bundestagswahl 2017, 2016), gerade auch was ihre Vorschläge für die Flüchtlingspolitik angeht. Nach dieser sollen weniger Menschen einwandern dürfen und die bereits Zugewanderten schneller des Landes verwiesen werden können (Alternative für Deutschland, 2017). Zudem gibt es immer wieder Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte (Tagesschau.de, 2016), welches als ein Ausdruck zunehmender Ängste und Ablehnung gegenüber Geflüchteten gedeutet werden kann. Die bereits im Abschnitt Die Unsichtbaren erwähnte Frage, ob Unterkünfte speziell für LSBTI-Geflüchtete eine Möglichkeit wären, stößt hier auf folgende Problematik: Mögliche Anschläge könnten sich dann gezielt gegen LSBTI richten, sodass ein solches Wohnheim schließlich ein doppeltes Angriffsziel für rechtseingestellte Aktivisten werden könnte.

Etwas Licht ins Dunkel gebracht

Um auf die Forschungsfrage „Welche Herausforderungen entstehen in der ehren- und hauptamtlichen Arbeit mit LSBTI-Geflüchteten?“ einzugehen, werden im Folgenden die wichtigsten Herausforderungen zusammengefasst. Dabei gibt unsere Arbeit mit ihren sechs Interviews nur einen kleinen Einblick in den Forschungsgegenstand, kommt aber dennoch zu Erkenntnissen, die uns die Lage von LSBTI-Geflüchteten in Deutschland besser verstehen lässt.

Die LSBTI-Geflüchteten sind in der öffentlichen Wahrnehmung eine nahezu unsichtbare Gruppe. Dementsprechend gering ist das Wissen über und die Unterstützungsleistungen für die spezielle Bedürfnislage dieser Gruppe. Die jeweiligen LSBTI-Organisationen und Ehrenamtlichen können mit ihrer Arbeit als Anlaufstellen und Ansprechpartner dienen, jedoch nicht gezielt auf die betroffene „unsichtbare“ Gruppe zugehen. Aus diesem Grund wäre eine Sensibilisierung von Ehren- und Hauptamtlichen, die mit Geflüchteten arbeiten, von großer Wichtigkeit. So könnten LSBTI-Geflüchtete an Organisationen verwiesen werden, sobald ihre Bedürfnisse erkannt werden. Darüber hinaus zeigen die Interviews, dass Frauen als doppelt unsichtbare Gruppe weitaus seltener an Helfende herantreten, obwohl oder gerade weil sie besonders in den familiären Strukturen gefangen sind.

Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit haben LSBTI ein starkes Netzwerk an großen und kleinen Organisationen geschaffen, das mit seinen schnellen Unterstützungsstrukturen den LSBTI-Geflüchteten zugutekommt. Ehrenamtliche Einzelpersonen sind in das Netzwerk miteingebunden und können Unterstützung durch größere Organisationen erfahren.

Auch die Geflüchteten unter sich haben ein starkes Netzwerk geschaffen, das ihnen einen schnellen Austausch von Tipps, wie und was man in Deutschland leben und erleben kann, ermöglicht. Im Netzwerk können gemeinsame Unternehmungen geplant werden und die Geflüchteten finden eher den Mut, ihre sexuelle Identität zu leben.

Die Identitätsfindung ist ein großes Thema für die LSBTI-Geflüchteten. Hier leisten Haupt- und Ehrenamtliche zusätzliche Arbeit als Ansprechpersonen zu Fragen von Coming Out und Sex, über Gesetzesbelange oder zu Unklarheiten über die Lebensrealität von LSBTI in Deutschland. Außerdem unterstützen die Helfenden die Identitätsfindung häufig durch das zur Verfügung stellen von Schutzräumen, in denen ein Austausch unter Menschen mit ähnlichen Problemen und Identitäten stattfinden kann.

LSBTI-Geflüchtete erfahren intersektionale Benachteiligungen. Als Geflüchtete und LSBTI haben sie in Deutschland einen besonders schweren Stand. Neben den Problemen aller Geflüchteter, dürfen die LSBTI ihre Identität nicht in ihrem Familien- oder Wohnumfeld leben, da ihnen sonst die familiäre Abkehr und körperliche Übergriffe drohen können. Deshalb gilt für sie ein Wohnumfeld zu finden, in dem sie sich frei entfalten können. Eine Lösung dafür könnten gesonderte Geflüchteten-Wohnheime für LSBTI sein. Viele lehnen diese jedoch ab, da die Geflüchteten in solchen Unterkünften ein stärkeres Ziel für rechte, aber auch islamistische Angriffe sein können.

Wichtig für die Gruppe der LSBTI-Geflüchteten wäre die Anerkennung der speziellen Problemlagen und darauf abgestimmte Hilfsmöglichkeiten, wie sensibilisiertes Personal und sichere Wohnunterkünfte. Zudem wäre eine Beschleunigung des Asylverfahrens wünschenswert, da hierdurch schnellere Möglichkeiten gegeben wären, die LSBTI-Geflüchteten zu integrieren und ihnen einen gesicherten Raum für eine lebenswertere Existenz zu ermöglichen.

Ein Beitrag von Katharina Knopf und Marie Steinhauer

Literaturverzeichnis

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ARBEITER-SAMARITER-BUND NRW e.V. (2016): Handreichung für die Betreuung und Unterstützung von LSBTTI*-Flüchtlingen. Im Internet unter: http://www.der-paritaetische.de/fileadmin/dokumente/downloads/veroeffentlichungen/broschuere-lsbtti-fluechtlinge-interaktiv.pdf, (Recherche am 04.01.2017).

BILDUNGS- UND SOZIALNETZWERK DES LESBEN- UND SCHWULENVERBANDES BERLIN-BRANDENBURG (BLSB) e.V. (2016): Flucht unterm Regenbogen. Wegweiser für die Unterstützung von homosexuellen und transgeschlechtlichen Geflüchteten. Im Internet unter: http://berlin.lsvd.de/wp-content/uploads/2016/12/Handreichung_LSBT_Gefluechtete.pdf, (Recherche am 04.01.2017).

BINDER, Beate/ Hess, Sabine: Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie aus Hess, Sabine/Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth (Hrsg.): Intersektionalität revisited – Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Transcript Verlag, Bielefeld, 2011.

BUNDESTAGSWAHL 2017 (2016): Prognose für die Bundestagswahl 2017. Im Internet unter: https://bundestagswahl-2017.com/prognose/, (Recherche am 13.01.2017).

TAGESSCHAU.DE (16.11.2016): Mehr als 850 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte Im Internet unter: http://www.tagesschau.de/inland/bka-anschlaege-fluechtlingsunterkuenfte-101.html, (Recherche am 13.01.2017).

UNITED NATIONS HIGH COMMISIONER FOR REFUGEES (UNHCR) (2015): Training package on the protection of LGBTI persons in forced displacement. Im Internet unter: http://www.unhcrexchange.org/topics/15810, (Recherche am 13.01.2017).

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