Über die Arbeit von ehrenamtlichen Vormündern für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

„Mehr Seele in den Laden bringen“

Die ehrenamtliche Vormundschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stellt eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements dar. In vielen anderen Bereichen können ehrenamtliche Tätigkeiten, ohne dies in irgendeiner Weise dadurch abwerten zu wollen, als eine Art Kompensation für nicht ausreichende hauptamtliche Strukturen oder Ressourcen an-gesehen werden. Die (ehrenamtliche) Einzelvormundschaft hingegen wird im Gesetzestext explizit gegenüber einer Amtsvormundschaft präferiert und bei näherer Betrachtung der Thematik ergeben sich hierfür auch plausible Gründe. In der Praxis führt dieser Umstand dazu, dass für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ein ehrenamtlicher Vormund mit zum Teil erheblichen Vorteilen verbunden sein kann und er somit eine wichtige Funktion übernimmt. Darüber hinaus geht mit einer Vormundschaft ein größerer Grad der Verbindlichkeit und Verantwortung für die Ehrenamtlichen selbst einher. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Form des Engagements erscheint daher sinnvoll.

Ziel dieses Beitrages ist es, den Lesern einen Überblick über die ehrenamtliche Vormundschaft zu geben und dabei typische Tätigkeiten, Erfahrungen oder Probleme der Engagierten herauszuarbeiten. Zudem soll die Frage geklärt werden, worin genau die viel zitierten Vorteile für die Minderjährigen liegen, ohne dabei mögliche Probleme außer Acht zu lassen.

Im Rahmen dieser Forschung wurden insgesamt fünf qualitative Interviews geführt. Zentrale Themen in den Gesprächen waren beispielsweise die Motive der Ehrenamtlichen, ihre eigenen Lerneffekte durch das Engagement, der konkrete Aufgabenbereich, die Reaktionen aus ihrem sozialen Umfeld, ihre Erfahrungen im Umgang mit Behörden sowie Verbesserungsvorschläge an die Politik. Die wichtigsten Ergebnisse werden in diesem Beitrag wiedergegeben, wobei zur Veranschaulichung des Datenmaterials an verschiedenen Stellen direkt aus den Interviews zitiert wird. Zuvor werden relevante Hintergrundinformationen und die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Vormundschaft dargestellt.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde auf geschlechtsneutrale Formulierungen verzichtet. Bei allgemeinen Berufs- oder Personenbezeichnungen und in der Mehrzahl sind immer beide Geschlechter gemeint.

Hintergrundinformationen

Begriff „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ und Daten

Wenngleich stellenweise noch andere Bezeichnungen in den Medien wahrzunehmen sind, hat sich der Begriff „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ im deutschsprachigen Diskurs weitestgehend durchgesetzt. Auch der Verband, der sich der Interessensvertretung dieser Personengruppe in Deutschland verpflichtet fühlt, trägt den Namen „Bundesfachverband unbegleitete minderjähriger Flüchtlinge e. V.“ (kurz BUMF). Dieser Beitrag schließt sich dieser Begrifflichkeit (oft als „UMF“ abgekürzt) an. Barbara Noske weist jedoch darauf hin, dass sich der Begriff bei genauerer Betrachtung als unschärfer herausstellt als zunächst suggeriert wird und man ihn stets im nationalen Kontext betrachten sollte (Noske 2012). Auch der BUMF selbst weiß um die Schwachstellen des Terminus, lehnt jedoch alternative Begrifflichkeiten wie etwa „unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ entschieden ab (BUMF 2015). Im europäischen und internationalen Diskurs spricht man von seperated children (Hargasser 2016, S. 52).

Laut BUMF lebten in Deutschland Ende Januar 2016 ca. 60.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF 2016). In den Medien finden sich unter Berufung auf die Jugendämter zum Teil höhere Zahlen, die vom BUMF als zu ungenau kritisiert werden. Die Diskrepanz bei den unterschiedlichen Daten mag mit dem zwischenzeitlichen „Verwaltungschaos“ zusammenhängen, bei dem es unter anderem zu Mehrfachregistrierungen von Personen gekommen ist (vgl. Bogumil et. al. 2016). Unstrittig ist hingegen der hohe Jungen-Anteil der nach Deutschland kommenden UMF, welcher bei etwa 90% liegt. Dies zeigte sich auch in den mit den ehrenamtlichen Vormündern geführten Interviews, da alle befragten Personen bislang ausschließlich Jungen betreuten oder betreuen. Zu den Hauptherkunftsländern von UMF in Deutschland zählen Afghanistan, Somalia, Syrien, Irak und Eritrea. Weitere Herkunftsländer stellen Marokko, Guinea, Pakistan, Indien oder Bangladesch dar (Noske 2015, S. 9). Auch dies deckt sich mit den geführten Interviews, da die von den Vormündern betreuten Mündel aus Irak, Syrien, Afghanistan und Guinea kamen. Viele der UMF sind entweder 16 oder 17 Jahre alt, wenn sie sich auf die Flucht begeben. Einer der befragten Vormünder gab eine mögliche Erklärung, warum es vor allem viele 16-Jährige sind. Auf der einen Seite wollen Eltern ihre Kinder nicht zu früh auf die Flucht schicken, die für Außenstehende mit schlichtweg unvorstellbaren körperlichen und psychischen Belastungen verbunden ist. Andererseits müssen die Jugendlichen – wenn sie es denn bis Deutschland schaffen – noch genug Zeit haben, den Familiennachzug (welcher inzwischen durch rechtliche Neuregelungen erschwert wurde) zu organisieren, bevor sie die Volljährigkeit erreichen.

UMF als Querschnittthema

Der vorliegende Beitrag legt mit der Vormundschaft seinen Fokus auf einen Teilbereich eines insgesamt komplexen und vielschichtigen Themas. Han-Broich weist zu Recht darauf hin, dass UMF ein „ganz eigenes Problemfeld“ darstellen (HAN-BROICH 2015, S. 47). Aspekte wie Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung oder psychologischer Betreuung spielen im Hinblick auf diese strukturell benachteiligte Personengruppe eine besonders wichtige Rolle. Im Zuge des Attentats im Juli 2016, bei welchem ein junger Flüchtling aus Afghanistan in einem Regionalzug bei Würzburg fünf Menschen zum Teil schwer verletzte und anschließend von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei erschossen werden musste, wurden die besonderen Herausforderungen in Bezug auf die UMF in Deutschland breit und kontrovers diskutiert (vgl. z. B. Spiegel Online 2016).

Rechtliche Rahmenbedingungen zur Vormundschaft  

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Vormundschaft von Minderjährigen (nicht nur von Flüchtlingen/Ausländern) finden sich vor allem im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Das BGB unterscheidet drei verschiedene Arten von Vormundschaften: Die Einzel-, Amts- und Vereinsvormundschaft. Bei der Einzelvormundschaft kann noch zwischen einer ehrenamtlichen und einer Berufsvormundschaft unterschieden werden (Müller 2014, S. 33). An dieser Stelle soll es in erster Linie um die Unterschiede und den Vergleich zwischen einer ehrenamtlichen Einzelvormundschaft und einer Amtsvormundschaft gehen.

Die Entscheidung über die Bestellung einer Vormundschaft obliegt dem jeweiligen Familiengericht. Interessanterweise definiert das BGB nicht nur die unterschiedlichen Vormundschaftsformen, sondern legt auch eine Reihenfolge fest: Demnach ist die ehrenamtliche Einzelvormundschaft den anderen Arten vorzuziehen (ebd.). Trotz dieser gesetzlichen Präferenz ist aus Mangel an geeigneten Personen die Amtsvormundschaft nach wie vor die verbreitetste Form (ebd. S. 34). Die damit verbundenen Nachteile liegen auf der Hand. Vor allem die zu hohe Anzahl an Mündeln für einen Amtsvormund stellt ein großes Problem dar. Laut des Gesetzgebers sollte ein Amtsvormund höchstens 50 Mündel gleichzeitig betreuen. Diese Obergrenze wird einerseits als zu hoch angesehen, da sich aus einer solch hohen Fallzahl kaum eine adäquate Betreuung für die einzelnen Minderjährigen ergeben könne. Andererseits wird paradoxerweise diese gesetzliche Obergrenze vielerorts sogar (zum Teil deutlich) überschritten. Im Juli 2016 berichtete das Magazin „Der Spiegel“ über den Fall eines Berliner Vormundes, der zeitweise für 200 Mündel gleichzeitig verantwortlich war.

Ein weiterer Kritikpunkt am Modell der Amtsvormundschaft ist die behördliche Zugehörigkeit. Der Vormund hat die Aufgabe, sich für die Belange seines Mündels einzusetzen und für ihn Partei zu ergreifen. Als Beschäftigter des Jugendamtes ist ein Amtsvormund jedoch Teil einer Behörde, von der sein Mündel Leistungen bezieht, was Zweifel an der Parteilichkeit aufkommen lassen kann (Noske 2010, S.13). Bei Betrachtung der Kritik an der Amtsvormundschaft gilt es zu berücksichtigen, dass im Rahmen dieses Forschungsprojekts keine Amtsvormünder interviewt wurden und es somit auch keine Gelegenheit zur Konfrontation und Gegendarstellung dieser Kritik gab. Schon alleine dem bewusst provokativ gewählten Titel dieser Arbeit „Mehr Seele in den Laden bringen“ würden viele hauptamtliche Vormünder vermutlich vehement widersprechen. Es ist ausdrücklich nicht das Ziel und die Intention dieses Beitrags, die Arbeit der Amtsvormünder zu entwerten und in ein schlechtes Licht zu rücken.

Bei der ehrenamtlichen Einzelvormundschaft übernehmen Privatpersonen die rechtliche Vertretung des jeweiligen Mündels. Dies können theoretisch auch Familienangehörige oder Bekannte des Minderjährigen sein, was bei den unbegleiteten Flüchtlingen aufgrund von mangelnden Sprach- und Behördenkenntnissen jedoch eher selten der Fall ist. Häufig melden sich die Privatpersonen nicht direkt bei dem Familiengericht, sondern wenden sich zunächst an einen bestimmten Verein oder eine Organisation und lassen sich dort als Vormund qualifizieren. Nach der Erteilung der Vormundschaft bleiben die Ehrenamtlichen oft in einem engen Kontakt mit der Organisation und haben in regelmäßig stattfindenden Gesprächsrunden die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Vormündern. In der Regel betreut ein ehrenamtlicher Vormund einen Minderjährigen. Dies deckt sich weitestgehend mit den in den Interviews gemachten Erfahrungen. Eine befragte Person stellt mit sieben Mündeln, die sie gleichzeitig betreut, eine Ausnahme dar.

Wie bereits angeklungen fungiert der Vormund als gesetzlicher Vertreter seines Mündels. Konkret formuliert das BGB in § 1793 Abs. 1 den Aufgabenbereich des Vormundes als „das Recht und die Pflicht für die Person und das Vermögen des Mündels zu sorgen, insbesondere den Mündel zu vertreten“. Einen klar definierten Aufgabenbereich seitens des Gesetzgebers gibt es folglich nicht. Mag man die Aufgabe der rechtlichen Vertretung noch als relativ eindeutig ansehen, scheint hingegen die Interessensvertretung ein weitgefächerter Begriff ohne klare Abgrenzung zu sein. Ein Vormund ist schließlich nicht die einzige Person, die sich um die UMF kümmert. Vor allem die Sozialarbeiter in den Jugendhilfeeinrichtungen spielen bei der Betreuung ebenfalls eine große Rolle. In einer früheren Studie wurde seitens mancher Sozialarbeiter Kritik an den ehrenamtlichen Vormündern geäußert. Diese würden ihren Aufgabenbereich überinterpretieren, wodurch es zu einer Art Kompetenzgerangel käme (Noske 2010, S. 17). In den für dieses Projekt durchgeführten Interviews lautete daher eine zentrale Frage, wie die Ehrenamtlichen ihren Aufgabenbereich konkret wahrnehmen.

Eine Vormundschaft endet mit der Volljährigkeit der jeweiligen Person. Für das zuständige Gericht besteht hierbei die Möglichkeit, bei der Altersbemessung für die Volljährigkeit nicht die deutschen Regelungen (sprich ab 18 Jahren) als Grundlage zu nehmen, sondern jene des Herkunftslandes der geflüchteten Person (Noske 2015, S. 18). So gab es bei zwei der befragten Vormünder den Fall, dass ihre jeweiligen Mündel erst mit 21 Jahren volljährig sein wer-den, da beide aus Guinea stammen. Die interviewte Vertreterin einer Organisation kritisierte die uneinheitliche Handhabe der Gerichte in dieser Frage. Unabhängig davon, wann die Vormundschaft endet, äußerten alle befragten Vormünder das Bestreben, auch danach in engem Kontakt mit ihren dann ehemaligen Mündeln zu bleiben und sie weiterhin unterstützen zu wollen.

Auswertung der Interviews

Zur Methodik und dem Verlauf der Erhebung

Als empirische Datenerhebung wurden analog zu den anderen Einzelprojekten dieses Forschungsmoduls qualitative Experteninterviews geführt. Solche qualitativen Interviews unterscheiden sich von standardisierten Befragungen im Grad der Offenheit und Flexibilität. Zwar sind auch hier eine vorherige Recherche und eine gewisse Vorüberlegung von Fragen und thematischer Fokussierung (Meta-Leitfaden) notwendig, doch die grundsätzlich offene Struktur erlaubt es, dass jedes Interview seinen ganz eigenen Verlauf nimmt. Die Fragen werden möglichst offen formuliert, sodass die Gesprächsteilnehmer bei ihren Antworten eigene Schwerpunkte setzen können. (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008)

Von den fünf Interviews wurden vier mit ehrenamtlich Engagierten geführt, die entweder aktuell oder bis vor kurzem eine oder mehrere Vormundschaften übernommen haben bzw. hatten. Es wurden zwei Frauen und zwei Männern unterschiedlichen Alters und Berufstandes aus verschiedenen Großstädten des Ruhrgebiets interviewt. Ein weiteres Gespräch wurde mit einer hauptamtlich beschäftigten Person einer Organisation geführt, die ehrenamtliche Vormünder qualifiziert und begleitet. Die Interviews hatten eine Länge zwischen 30 und 60 Minuten und fanden sowohl in öffentlichen Lokalitäten als auch in den Privaträumen der Ehrenamtlichen statt. Ein Teil der Kontakte zu den Interviewpartnern kam über persönliche Netzwerke zu Stande. Darüber hinaus kontaktierte ich verschiedene Organisationen, welche dann zwischen den an einem Gespräch interessierten Vormünder und mir vermitteln sollten.

Zum Zeitpunkt meiner Kontaktaufnahme (Juni-August 2016) waren bei der Recherche im Internet nicht viele Organisationen in den Großstädten des Ruhrgebiets zu finden, die ehren-amtliche Vormünder für UMF qualifizieren und betreuen. Von diesen Organisationen hatten manche wiederum erst damit begonnen, Vormundschaftsprojekte für UMF aufzubauen,  weshalb eine Zusammenarbeit noch nicht möglich oder sinnvoll war. Letztlich lief es auf eine Zusammenarbeit mit zwei Organisationen hinaus, welche weitestgehend reibungslos funktionierte. Verständlicherweise betrachten die Organisationen die ehrenamtlichen Vormünder als wichtige Ressource und wollen sie daher vor unnötigem Arbeitsaufwand verschonen. Überraschend war hingegen, dass mehrere Ehrenamtliche zwar grundsätzliches Interesse an einem Interview bekundeten, sich dies allerdings nicht zutrauten und deshalb nicht an mich heran traten. Hier stellt sich selbstkritisch die Frage, inwieweit das Projekt meinerseits nicht verständlich genug kommuniziert wurde.

Die Erfahrungen der Ehrenamtlichen

Eine Vormundschaft beginnt, wie es ein Ehrenamtlicher treffend formulierte, mit einem „hochoffiziellen“ Gerichtsbeschluss. Dem Vormund wird ein Mündel zugewiesen, zu welchem er in der Regel zuvor noch keinen Kontakt hatte. Der Verlauf der Vormundschaft lässt sich gewissermaßen in zwei Phasen unterteilen. Zunächst gehe es laut den Ehrenamtlichen vor allem darum, die notwendigen behördlichen Angelegenheiten zu regeln und die strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen die UMF gut in Deutschland leben können. Hierzu gehören typischerweise die Stellung des Asylantrags, die Beantragung von Ausweisdokumenten und gesundheitlichen Leistungen sowie die Unterstützung bei schulischen und beruflichen Angelegenheiten. Erst danach komme es auch vermehrt zu gemeinsamen freizeitlichen Aktivitäten. Der Umfang dieser Aktivitäten ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Die beiden Phasen sind nicht strikt voneinander getrennt. Auch in der ersten Phase sind die Ehrenamtlichen bemüht, eine persönliche Beziehung zu ihren jeweiligen Mündeln aufzubauen. Aufgrund von sprachlichen und anderen Barrieren kann sich dies als zunächst schwierig herausstellen. Umgekehrt sind die rechtlichen und behördlichen Angelegenheiten nie komplett abgeschlossen und stehen grundsätzlich während der gesamten Dauer der Vormundschaft im Fokus. Vor allem wenn es in irgendeiner Art und Weise Probleme gibt, sind die Ehrenamtlichen gefragt.

Die Vormünder gaben an, ihre Mündel je nach Situation durchschnittlich ein bis zweimal in der Woche, mindestens jedoch alle 14 Tage zu treffen. Darüber hinaus stehe man über Mobiltelefone und andere Medien im regelmäßigen Austausch. Das im Vergleich zum Hauptamt deutlich höher zur Verfügung stehende Zeitbudget erlaubt es den Ehrenamtlichen sich um Dinge zu kümmern, für die ein hauptamtlicher Vormund gar nicht die Zeit aufbringen könnte. Exemplarisch sei hierfür die Organisation des Familiennachzugs erwähnt. Dies ist für viele UMF aus nachvollziehbaren Gründen ein wichtiges Thema. Für die Realisierung sind sie und ihre Familien jedoch meist auf fremde Hilfe in Deutschland angewiesen. Bekommen sie diese Hilfe nicht, kann dies zu einer großen psychischen Belastung für die UMF werden (dieses Thema wird von der Gruppe zur psychologischen Betreuung ausführlich behandelt). Ein befragter Ehrenamtlicher kümmerte sich um den jeweiligen Familiennachzug seiner beiden Mündeln und schilderte diesen Prozess als äußert zeitaufwendig. Die gemachten Erfahrungen hielt er in einem Fall auch schriftlich fest. Für subsidiär Schutzbedürftige, zu denen vor allem viele Personen aus Syrien gehören, wurde der Familiennachzug in der Zwischenzeit bis zum 16. März 2018 ausgesetzt (vgl. Deutsches Rotes Kreuz 2016).

Auf die Frage, warum sich die Ehrenamtlichen für diese Form des Engagements entschieden haben, wurden unterschiedliche Aspekte genannt. Betont wurde in erster Linie die besondere Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen. Zudem spielen zum Teil auch Migrationsgeschichten in der eigenen Familie oder eine längere Beschäftigung mit Fluchtthemen allgemein eine Rolle. Auch die spezielle deutsche Geschichte oder regionale Probleme mit Rechtsextremismus wurden erwähnt. Zwei der Befragten übernahmen eine Vormundschaft nach Eintritt ihres beruflichen Ruhestandes und haben sich insofern bewusst für eine zeitintensivere Form des Engagements entschieden. Ganz grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Ehrenamtlichen die Integration von Flüchtlingen ausdrücklich nicht als eine Art Einbahnstraße begreifen, sondern vielmehr die Verantwortung der bereits in Deutschland lebenden Bevölkerung in den Fokus stellen. Dies trifft vermutlich für viele der Befragten aus den anderen Themenbereichen ebenfalls zu.

Auch beim „Nutzen“ des Engagements wurde die Wechselseitigkeit betont. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, jungen Menschen zu helfen und gebraucht zu werden, bringe eine gewisse Erfüllung für die eigene Person mit sich. Darüber hinaus sehen die Ehrenamtlichen das Kennenlernen anderer Kulturen als Bereicherung an. Eine der Befragten brachte das eigene profitieren von dem Engagement besonders zugespitzt auf den Punkt:

„Das erweitert alles mein Bewusstsein und ist sehr, sehr, sehr bereichernd. Deshalb, ich bin keine Mutter Theresa oder so, sondern ich mache das aus egoistischen Gründen.“ (Interview mit einem ehrenamtlichen Vormund, 08.08.2016)

Dass die besondere Verantwortung einer Vormundschaft auch zur Last werden kann, wurde seitens der Ehrenamtlichen in den Interviews nicht thematisiert. Alle Befragten sprachen über ihr Engagement mit einer anzumerkenden Selbstverständlichkeit und gleichzeitigen Begeisterung. Lediglich in einem der Interviews wurden zumindest auch die entstehenden zeitlichen Belastungen kritisch angesprochen. Dies läge unter anderem an dem deutschen Behördenapparat.

Generell wurde in den Interviews ein tendenziell negatives Bild von der Interaktion mit den Behörden gezeichnet, wobei es hier auch Unterschiede zwischen der Art der Behörde und den verschiedenen Städten gab. Die Befragten, die in ihrem eigenen Leben wenig bis gar nicht staatliche Transferleistungen bezogen haben und insofern selbst gewissermaßen Neuland betraten, äußerten sich erstaunt über die gemachten Erfahrungen.

„Wenn man bisher mit solchen Institutionen noch nichts zu tun gehabt hat, dann ist das nochmal eine neue Erfahrung. Wenn ich solche Fälle in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen habe, habe ich früher immer gedacht, die Leute übertreiben wenn die so Erfahrungen schildern. Wie Behörden sehr, sehr merkwürdig sind. Aber ich mache jetzt die Erfahrung, dass es vielleicht doch nicht übertrieben ist. Also ich sage mal so, Spaß macht es nicht mit den Behörden (lacht).“ (Interview mit einem ehrenamtlichen Vormund, 30.08.2016)

Vor allem die Dauer von behördlichen Verfahren und die Komplexität der Antragsstellungen seien ein Problem. Letzteres löste bei einem Teil der Ehrenamtlichen gar den Verdacht aus, dass dahinter eine bewusste Methode stecke, um eigentlich zustehende Sozialleistungen Personen nicht auszahlen zu müssen. Unabhängig davon, wie zutreffend oder überzeichnet solche Schilderungen der Ehrenamtlichen sind, lässt sich eines unzweifelhaft festhalten: Die Interaktionen mit den Behörden erfordert Zeit und teilweise auch eine gewisse Beharrlichkeit. Gerade in der Beharrlichkeit kann wiederum ein großer Vorteil der ehrenamtlichen Vormünder liegen. Eine befragte Ehrenamtliche sprach beispielsweise von einem langen „Kampf“ mit dem zuständigen Gesundheitsamt, um notwendige medizinische Behandlungen für eines ihrer Mündel finanziert zu bekommen. Dieselbe Person sieht es als ihre „sportliche Aufgabe“ an zu erreichen, dass die Ausstellung der Ausweispapiere und die Entscheidung über den Aufenthaltsstatus nicht länger als sechs Monate dauern. Durch permanente Nachfragen bei dem zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sei ihr dies bislang immer gelungen. Diese und andere Beispiele zeigen, dass die Dauer und der Ausgang von behördlichen Verfahren nicht nur vom jeweiligen Sachverhalt abhängen, sondern zumindest in bestimmten Fällen vom persönlichen Einsatz eines Ehrenamtlichen positiv beeinflusst werden können.

Auch außerhalb solch rechtlicher Angelegenheiten versuchen die Vormünder, ein hilfreicher Ansprechpartner für die Jugendlichen zu sein. Ein Ehrenamtlicher war zum Beispiel intensiv in private Probleme seines Mündels eingeweiht und berichtete über eine Situation, in der er sich während eines Urlaubs fernab der Heimat die nötige Zeit für ein Telefonat nahm, um über diese Probleme zu sprechen. Genau diese Bereitschaft und Möglichkeit, für die UMF mehr leisten zu können als man formal leisten müsste, zeigt eine große Stärke der ehrenamtlichen Vormundschaft. Dies ist auch die Kernaussage des (erneut zugespitzten) Zitats einer der Interviewteilnehmer, welches diesem Beitrag seinen Titel gab:

„Ich empfinde unser System so: Es kümmert sich, damit alle sauber, satt und trocken sind. Aber die Seele ist irgendwo auch noch da. Das ist das was fehlt, dass unser System so seelenlos ist. Dafür sind wir als ehrenamtliche Vormünder da, um mehr Seele in den Laden rein zu bringen.“ (Interview mit einem ehrenamtlichen Vormund, 08.08.2016)

Verbesserungsvorschläge an die handelnden Akteure

Zum Abschluss der Gespräche wurden die Interviewpartner zu ihren Verbesserungswünschen befragt. Diese leiten sich zum Teil aus den in Abschnitt 3.2 geschilderten Erfahrungen ab und beziehen sich nicht immer nur auf die Vormundschaft und UMF, sondern auch auf die Flüchtlingshilfe generell. Es wurde beispielsweise angeregt, Projekte und Stellen vermehrt präventiv und weniger reaktiv zu finanzieren. Dieser Vorschlag wurde an einem Beispiel aus einer Stadt illustriert, in welcher das örtliche Jobcenter neue Stellen für die Schuldnerberatung für Flüchtlinge schaffen musste.

„Jetzt verschulden sich aktuell aber viele Flüchtlinge und dann geht es zur Schuldnerberatung ins Jobcenter. Eine Mitarbeiterin dort meinte, dass sie alleine für die Schuldnerberatung für Flüchtlinge vier neue Stellen schaffen müssten. Das ist natürlich absurd. Fordert man Stellen für Patenbegleitung, kriegt man die nicht. Aber hinterher für die Schuldnerberatung, also wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, dann werden die Stellen geschaffen. Es ist verrückt.“ (Interview mit einem ehrenamtlichen Vormund, 09.08.2016)

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde allerdings wenig Hoffnung auf die Umsetzung dieses Wunsches geäußert.

„Als Ehrenamtlicher, der permanent mit der Realität konfrontiert wird, wünscht man sich eine Schnelligkeit, die Behörden aber leider nicht liefern können. Aber die andere Seite kann man natürlich auch verstehen. Das sind ja auch alles haushaltstechnische Fragen mit der Stellenfinanzierung und so weiter. Das muss dann alles durch zig Gremien laufen und am Ende vom Rat beschlossen werden, da ist dann mal locker ein Jahr ins Land gelaufen. Wenn man so drin ist, möchte man, dass es viel schneller geht.“ (Interview mit einem ehrenamtlichen Vormund, 09.08.2016)

Ein anderer angesprochener Aspekt ist die bessere Verzahnung und Ergänzung von Haupt- und Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe. In diese Richtung geht auch der Vorschlag der hauptamtlich befragten Person, welcher bereits in manchen Städten seine Anwendung findet. Demnach teilen die Vormünder des Jugendamtes ihre Stelle auf. Während sie in der einen Hälfte ihrer Arbeitszeit weiter selbst UMF betreuen, unterstützen und beraten sie in der anderen Hälfte ehrenamtliche Vormünder. Ein solches Modell könnte das Hauptamt entlasten und gleichzeitig neue Strukturen schaffen, mit denen die ehrenamtliche Vormundschaft ausgebaut werden kann.

Ausblick

Analog zu der in den letzten Jahren größer gewordenen Anzahl von UMF in Deutschland ist auch die Zahl an ehrenamtlichen Vormündern und den darauf spezialisierten Vereinen und Organisationen gestiegen. Die in der Antwort der Bundesregierung zu einer großen Anfrage der Grünen-Fraktion zum Thema UMF im Juli 2015 seinerzeit noch relativ kurze vorgelegte Liste der deutschlandweit bekannten Vereine und Organisationen dürfte mittlerweile deutlich länger geworden sein (BT-DRUCKSACHE 18/5564 2015, S. 23). Wie es sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln wird bleibt abzuwarten. Ein Ehrenamtlicher stellte die These auf,  dass der „Ehrenamts-Hype“ in Deutschland bereits wieder abgeklungen sei. Die befragte Organisationsmitarbeiterin zeigte sich im Gespräch dagegen optimistischer. Ihrer Meinung nach habe sich die ehrenamtliche Vormundschaft als Erfolgsmodell herauskristallisiert und werde sich daher in Zukunft weiter etablieren, auch unabhängig davon wie sich die Flüchtlingszahlen entwickeln werden.

„Also es wird langfristig denke ich immer parallel die ehrenamtlichen Vormundschaften jetzt geben. Bis vor ein paar Jahren wurden die nie erwähnt und jetzt ist es aber so, dass sich das so dermaßen verbreitet, dass man da nicht mehr drüber hinwegsehen kann langfristig. Aber auch nicht sollte! Das ist einfach toll!“ (Interview mit einer hauptamtlichen Mitarbeiterin einer Organisation, 31.08.2016)

Ein Beitrag von Philipp Trautmann

Literaturverzeichnis

  • BOGUMIL, Jörg/ Hafner, Jonas/ Kuhlmann, Sabine (2016): Verwaltungshandeln in der   Flüchtlingskrise – Vollzugsdefizite und Koordinationschaos bei der Erstaufnahme und der Asylantragsbearbeitung, In: DIE VERWALTUNG, Band 49.
  • BT-DRUCKSACHE 18/5564 (2015): Drucksache des Deutschen Bundestages 18/5564 vom 15. Juli 2015: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Luise Amtsberg, Beate Walter-Rosenheimer, Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/2999 –Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland.
  • BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJ. FLÜCHTLINGE (2015): Kritik an der Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer_in“, im Internet unter: http://www.b-umf.de/images/Kritik_Begriff_umA.pdf (Letzter Abruf am 13.01.2017)
  • BUNDESFACHVERBAND UNBEGLEITETE MINDERJ. FLÜCHTLINGE (2016): Zahlen zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen: Bestand, Verteilung, Quotenerfüllung und Elternnachzug, im Internet unter http://www.b-umf.de/images/150129_PM_AktuelleZahlenUMF.pdf (Letzter Abruf am 13.01.2017)
  • DEUTSCHES ROTES KREUZ (2016): Fachinformation des DRK-Suchdienstes zum Familiennachzug von und zu Flüchtlingen, Ort unbekannt.
  • HAN-BROICH, Misun (2015): „Engagement in der Flüchtlingshilfe“ In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 65 (14-15).
  • HARGASSER, Brigitte (2016): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Sequentielle Traumatisierungsprozesse und die Aufgaben der Jugendhilfe, 3. Auflage, Frankfurt am Main.
  • MÜLLER, Andreas (2014): Unbegleitete Minderjährige in Deutschland, Working Paper 60 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Nürnberg.
  • NOSKE, Barbara (2010): Herausforderungen und Chancen. Vormundschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, München.
  • NOSKE, Barbara (2012): „Zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling werden – Über die Untrennbarkeit des Begriffs vom deutschen Kontext“ In: DEUTSCHES ROTES KREUZ et. al. (Hg.): Kindeswohl und Kinderrechte für minderjährige Flüchtlinge und Migranten, Bonn und Berlin.
  • NOSKE, Barbara (2015): Die Zukunft im Blick. Die Notwendigkeit, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Perspektiven zu schaffen, Berlin.
  • PRZYBORSKI, Aglaja/ Wohlrab-Sahr, Monika (2008): Qualitative Sozialforschung – Ein Arbeitsbuch, München.
  • SPIEGEL ONLINE (2016): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Jung. Allein. Gefährdet? im Internet unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wuerzburg-sind-unbegleitete- minderjaehrige-fluechtlinge-empfaenglich-fuer-radikalisierung-a-1103684.html (Letzter Abruf am 13.01.2017)

 

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