Zivile Seenotrettung als zivilgesellschaftliches Protestverhalten gegen die „Festung Europa“

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Unser Seminar an der Ruhr-Universität Bochum im Sommersemester 2018 trägt den Titel „lokales Engagement in der Geflüchtetenhilfe in europäischen Zusammenhängen“. Zu Beginn beschäftigten wir uns mit verschiedenen Engagementformen der Flüchtlingshilfe in der Ruhr-Region und betrachteten anschließend andere europäische Länder. Nach der theoretischen Betrachtung des Geflüchtetenengagements stellte sich für uns die Frage: Welches Thema wollen wir überhaupt behandeln und was wird unsere Fallstudie? Schnell wurden wir uns einig. Es sollte das Thema „Flucht und Migration im europäischen Kontext“ werden. Jetzt musste nur noch der Untersuchungsgegenstand gefunden werden. Aus persönlichem Interesse und wegen des lokalen Bezugs kamen wir auf RESQSHIP, einen gemeinnützigen Verein, der im Juni 2017 gegründet wurde. Der bundesweite Verein für zivile Seenotrettung hat mehrere Regionalgruppen und eben auch eine in Bochum. Auf ihrer Homepage schreibt RESQSHIP:

„Zum Selbstverständnis unserer Crew gehört, dass die derzeitige Situation an den Außengrenzen Europas nicht akzeptierbar ist: Sie widerspricht dem Gedanken einer freien, offenen und toleranten Weltgemeinschaft, in der Menschenleben als wertvoll und schützenswert betrachtet wird.“ (RESQSHIP, 2018)

Zivile Seenotrettung als solches steht aus deutscher Sicht schon in einem europäischen Kontext, da Deutschland an keine Gewässer grenzt, in welchen zivile Seenotrettung zu finden wäre. Wie kommt also ein deutscher Verein dazu, sich für zivile Seenotrettung zu engagieren?

Der Hintergrund – Mare Nostrum vs. Triton

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein paar Jahre in der Zeit zurückgehen. Genauer gesagt in das Jahr 2013. Am 3. Oktober dieses Jahres ereignete sich eines der bis dato schlimmsten Schiffsunglücke von Bootsflüchtlingen auf dem Weg Richtung Europa – 366 Personen kamen ums Leben (Lizzy/Neslen, 2015). Nur ein paar Tage später folgte erneut ein Schiffsunglück zwischen Malta und Lampedusa. Die Zahl der Todesopfer stieg auf über 600 (Musaro, 2016). Die italienische Regierung reagierte auf diese Unglücke indem sie am 18. Oktober 2013 eine Marine-Operation mit dem Namen Mare Nostrum ins Leben rief (Ministero della Difesa). Die militärische und humanitäre Operation hatte zum Ziel:

„tackling the humanitarian emergency in the Strait of Sicily, due to the dramatic increase in migration flows.“ (ebd.) Das Mandat beinhaltete: „safeguarding human life at sea, and bringing to justice human traffickers and migrant smugglers.“ (ebd.)

Die italienische Marine patrouillierte auf dem Mittelmeer eine Fläche von 70.000 Quadratmetern (Davies und Neslen, 2014), die nicht nur italienisches Gewässer abdeckte, sondern auch die Search& Rescue-Zonen von Lybien und Malta miteinschloss (European Political Strategy Center, 2017). Im Jahr 2014 wurden „mindestens die Hälfte der rund 218.000 Menschen, die [in diesem Jahr] auf dem Seeweg die EU erreichten“ durch Mare Nostrum sicher ans Festland gebracht (The Guardian, 2015). Trotzdem starben 2014 mehr als 3.500 Menschen, die über das Mittelmeer versuchten Europa zu erreichen (UNHCR). Eine Lösung auf europäischer Ebene, zu der bspw. Cecilia Malmström; ehem. Kommissarin für Innenpolitik der EU, das Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), der Menschenrechtskommissar des Europarats und der Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aufriefen, blieb mehr oder weniger aus (ebd.). Trotz der wichtigen Arbeit der Operation, stellte die italienische Regierung Mare Nostrum am 31. Oktober 2014 wieder ein. Gründe dafür waren zum einen die hohen Kosten, sie sprengten den geplanten Rahmen um ein Vielfaches, zum anderen Missmut darüber, diese eigentlich europäische Aufgabe alleine verantworten zu müssen (Koller, 2017). Bei einem Treffen zwischen dem damaligen italienischen Innenminister, Angelino Alfano, und der ehem. EU-Kommissarin, Cecilia Malmstöm, wurde ein neues Frontex-Programm beschlossen, welches im November 2014 startete und Triton heißen sollte.

Das Mandat:

„The role of Frontex is key to ensure effective border control in the Mediterranean region, and at the same time to provide assistance to persons or vessels in distress. Frontex is entrusted with assisting Member States in circumstances requiring increased technical assistance at the external borders, taking into account that some situations may involve humanitarian emergencies and rescue at sea. Although Frontex is neither a search and rescue body nor does it take up the functions of a Rescue Coordination Centre, it assists Member States to fulfil their obligation under international maritime law to render assistance to persons in distress.“ (Europäische Kommission, 2014)

Verglichen mit Mare Nostrum zielt die Triton-Operation primär auf Grenzschutz- und weniger auf Rettungsoperationen ab. Auch die Kosten der beiden Operationen unterscheiden sich wesentlich. Mare Nostrum hatte finanzielle Mittel von 9Mio. € pro Monat, während die Triton-Operation ein Budget von 2,9Mio. € umfasst. Sieht man sich die Zahlen der Rettungsmissionen, die Mare Nostrum und Triton gefahren sind, im Vergleich an, stellt man fest, dass letztere signifikant weniger Rettungen jährlich durchführten und die Todeszahlen im Mittelmeer gestiegen sind (Scherer & Di Giorgio, 2014). Die entstandene Lücke, durch das Wegbrechen von Mare Nostrum und die damit fehlenden Search& Rescue Missionen, füllen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Lag ihr Anteil an Seenotrettungen auf dem Mittelmeer 2014 noch bei 0,87 Prozent, erhöhte sich dieser 2015 auf 13,17 Prozent und 2016 auf 26,23 Prozent (Faktenfinder Tagesschau, 2017).

Unser Fallbeispiel: RESQSHIP

Und hier schließt sich der Bogen zu unserem Fallbeispiel: RESQSHIP. Denn auch sie haben das Ziel Search & Rescue-Missionen zu unterstützen. So schreiben sie auf ihrer Homepage:

„Es ist unsere humanitäre Pflicht, Menschen in höchster Not zu helfen und sie vor dem Tod durch Ertrinken zu retten. Solange die Ursachen für die Flucht nicht beseitigt worden sind, werden Menschen auf dem Mittelmeer sterben.“

Ein Mitglied von RESQSHIP, Charlott, erklärt sich zu einem Interview mit uns bereit. Wir sprechen mit ihr über ihre persönlichen Gründe sich zu engagieren und über das Engagement von RESQSHIP im Allgemeinen. Das gibt uns die Möglichkeit, mehr über die Motivation für das Engagement in der zivilen Seenotrettung zu erfahren. Das ist wichtig, da wir mit unserer Fallstudie herausfinden wollen, inwiefern dem Engagement in der zivilen Seenotrettung Protestcharakter innewohnt und sich dieser Protest gegen eine „Festung Europa“ richtet.

Vergleicht man die zivile Seenotrettung mit anderen Engagementformen der Geflüchtetenhilfe, so lassen sich wesentliche Unterschiede feststellen. Zum einen steht die zivile Seenotrettung viel stärker im öffentlichen Fokus als andere Engagementformen und zum anderen ist sie harscher Kritik ausgesetzt. Ein Beispiel hierfür sind die Berichte aus den vergangenen Wochen in denen es um Boote vereinzelter NGOs ging, denen tagelang das Anlegen an europäische Häfen untersagt wurde, deren Besatzungen vor Gericht verklagt wurden und denen vorgeworfen wird, sie würden das Schlepper-Geschäft ankurbeln und ein Pull-Faktor für die Flucht nach Europa sein. Nicht zuletzt durch die Arbeit der NGOs ist das Thema Seenotrettung auf der politischen Agenda der europäischen Regierungen vertreten und wird dort und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Trotz der genannten Hürden mit denen die zivile Seenotrettung zu kämpfen hat, besteht das Engagement weiter und hat sich sogar vergrößert. Sind es allein humanitäre Gründe, die sie dazu motiviert auf hohe See zu fahren oder kann das Engagement als Protestverhalten betrachtet werden? Wir möchten uns dem Thema in unserer Forschungsarbeit annähern und fragen: Kann die zivile Seenotrettung als Protestverhalten gegen die „Festung Europa“ betrachtet werden? Um diese Frage zu beantworten, definieren wir zuerst einmal Protestverhalten, untersuchen daraufhin die Aktivitäten des Vereins RESQSHIP und lassen anschließend das Interview mit Charlott von RESQSHIP einfließen, die uns stellvertretend für die Vereinsmitglieder erzählt hat, worum es ihnen geht.

Theorie

Um das Thema der zivilen Seenotrettung in den Kontext unseres Seminars einzubetten, haben wir uns näher mit der Engagementforschung auseinandergesetzt. Zum ehrenamtlichen Engagement im Rahmen der zivilen Seenotrettung gibt es bisher keine explizite Forschung. Grund dafür dürfte die relativ junge Geschichte der zivilen Seenotrettung sein (siehe Einführung). In dem Sammelband „Engagement und Zivilgesellschaft – Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht“, herausgegeben von Thomas und Anna Wiebke Klie, befasst sich ein Kapitel mit zivilgesellschaftlichem Engagement in Deutschland und Europa (Blinkert/Klie, 2018: 339-424). Nachfolgend dient uns dieses als Grundlage.

Den Untersuchungen von Blinkert und Klie liegen Daten des European Social Survey (ESS) für den Zeitraum von 2002 bis 2012 zugrunde. Blinkert und Klie (ebd.: 342) unterscheiden drei Dimensionen zivilgesellschaftlichen Engagements:

„1. Volunteering („Ehrenamtlichkeit“): die Mitarbeit in Initiativen bzw. Organisationen mit gemeinnützigem Charakter;

2. Konventionelles politisches Engagement: Kontakt mit Politikern, Mitarbeit in Parteien und Aktionsgruppen;

3. Politisches Engagement mit Protestcharakter.“

Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise (ab 2015) war besonders das Volunteering im medialen Diskurs sehr präsent und begann wissenschaftliches Interesse zu wecken. Für unsere Fallstudie möchte wir die Dimension des politischen Engagements mit Protestcharakter genauer beleuchten. Blinkert und Klie stellen fest, dass die Indikatoren für diese Dimension eines gemein haben, „[…] es handelt sich um Aktivitäten, die im Allgemeinen außerhalb eines institutionellen Rahmens stattfinden und Protestcharakter haben […]“ (ebd.: 349). Den Ergebnissen von Blinkert und Klie zufolge „ist das »Protest-Engagement« in Deutschland bis 2012 sehr deutlich gestiegen“ (ebd.: 359). Das Erkenntnisinteresse unserer Arbeit liegt darin, zu untersuchen, inwiefern die zivile Seenotrettung als zivilgesellschaftliches Protestverhalten nach Blinkert und Klie betrachtet werden kann und weiter sich gegen ein „Festung Europa“ positioniert. Untersuchungsgegenstand unserer Arbeit ist RESQSHIP, ein gemeinnütziger Verein für die zivile Seenotrettung (RESQSHIP, 2018).

Analyse

Hintergründe/Motivation

Wer protestiert fällt auf. Das sieht man auch an den von Blinkert und Klie eingeführten Indikatoren des politischen Engagements mit Protestcharakter. Die Frage dahinter ist jedoch, neben den von Blinkert und Klie angeführten Indikatoren, was bewegt Menschen vorrangig diese Dimension des zivilgesellschaftlichen Engagements auszuüben? Im Interview mit Charlott von RESQSHIP zeigte sich, dass sie sich sehr bewusst für die zivile Seenotrettung entschieden hatte. Grundlage war für sie das große Schiffsunglück vor Lampedusa 2013. In ihrer Antwort auf die Frage nach ihrer Motivation „weshalb sie sich gerade bei RESQSHIP engagiert“ geht sie deutlich auf den Protestcharakter ein:

„Es kann nicht sein, dass bei der heutigen politischen Lage und […] bei der gesellschaftlichen Situation immer noch Menschen, die flüchten müssen, bei ihrer Flucht ertrinken“ (Interview RESQSHIP: 3:00-3:25).

Dieses Statement bringt einen deutlichen Widerwillen von Charlott gegenüber der politischen Handhabung der Seenotrettung im Mittelmeer zum Ausdruck. Diesen Widerwillen kann man ebenfalls als Grundlage für das Protestverhalten der Organisation sehen, da sie als Vertreterin der Organisation mit uns gesprochen hat. Die Passage aus dem Interview deutet darauf hin, dass die Bereitschaft sich zivilgesellschaftlich zu engagieren aus politischem Interesse entspringt (Blinkert/Klie, 2018: 392).

Ziel Organisation

Blinkert und Klie thematisieren ebenso, dass die Trennlinie zwischen politischem Engagement mit Protestcharakter und konventionellem Engagement nicht trennscharf ist (Blinkert/Klie,2018: 358). Es zeigt sich im Interview mit Charlott, dass die politische Dimension der Seenotrettung zwar nicht im unmittelbaren Vordergrund steht, jedoch ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist. Das vorrangige Ziel von RESQSHIP ist – wie bereits in dem Beitrag angebracht – die humanitäre Hilfe: Menschen vor dem Ertrinken zu retten und andere Menschen auf die Notlage anderer aufmerksam zu machen. RESQSHIP leistet hier öffentliche Aufklärungsarbeit und informiert die Menschen: „wie sieht es gerade auf den Flüchtlingsrouten aus, wie ist die aktuelle Lage, zum Beispiel in Libyen oder den Camps, die da eben in Libyen sind“ (Interview RESQSHIP: 5:03-5:34). Mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement, das jedes Mitglied der Organisation leistet, engagieren sie sich durch die öffentliche Aufklärungsarbeit auch politisch (Interview RESQSHIP: 5:03-5:34). Eine weitere Interviewsequenz unterstreicht dies noch einmal. Hier fordert Charlott, im Namen der Organisation RESQSHIP, dass die EU ein eigenes, „ein staatliches Seenotrettungsprogramm […] ins Leben rufen sollte und müsste“ (Interview REQSHIP: 11:04-11:47) und spricht in Folge das 2014 eingestellte Seenotrettungsprogram Mare Nostrum sowie die FRONTEX-Operation an. Eine deutliche Kritik an dem derzeitigen Status Quo zeichnet sich sowohl darin aus, dass die Organisation der Meinung ist, solange es kein staatliches Rettungsprogramm gibt „müssen das zivile Seenotretter übernehmen und die übernehmen damit eine staatliche Aufgabe“ (Interview REQSHIP: 11:04-11:47), als auch darin, dass Charlott klar sagt:

„unsere Arbeit gäbe es nicht, wenn wir nicht irgendwie ja den Staat dabei ersetzen müssten und da natürlich auch irgendwo indirekt gegen den Staat […] protestieren, rebellieren, was auch immer, würden“ (Interview REQSHIP: 12:46).

Die sekundären Ziele der Organisation: die öffentliche Aufklärungsarbeit, die Kritik am Status quo, wie auch Charlotts persönliche Motivation, unterstreichen das Ergebnis von Blinkert und Klie, dass die Trennlinie zwischen politischen Engagement mit Protestcharakter und konventionellem Engagement nicht trennscharf ist. Die Organisation spricht immer wieder an, welche Lücken der Status quo aufweist und thematisiert somit die politischen Schwächen. Im Interview mit Charlott wird dies besonders deutlich, als wir ihr unsere Forschungsfrage vorstellten und sie nach ihrer Meinung fragten.

Die Aussagen und das damit einhergehende Verhalten zeigen einen deutlichen Protestcharakter gegenüber dem politischen Status quo, denn Proteste sind meist laut und öffentlich. Der Aspekt der öffentlichen Aufklärung ist ein wichtiges Indiz dafür, dass das politische Engagement von RESQSHIP in der zivilen Seenotrettung einen deutlichen Protestcharakter besitzt, welcher sich gegen die Festung Europas richtet.

Zivile Seenotrettung als zivilgesellschaftliches Engagement mit Protestcharakter?

Um also zu untersuchen, ob die zivile Seenotrettung als politisches Engagement mit Protestcharakter betrachtet werden kann, müssen wir die Charakteristika von Blinkert und Klie für ebendiesen Engagementbereich genauer in Augenschein nehmen. Politisches Engagement mit Protestcharakter ist demnach durch die folgenden vier Indikatoren zu charakterisieren: das Tragen von Protestsymbolen, das Unterschreiben von Petitionen, die Teilnahme an Demonstrationen sowie das Boykottieren von Produkten (Blinkert/Klie, 2018: 349). Für das Fallbeispiel der zivilen Seenotrettung erscheint letzteres, also das Boykottieren von Produkten, irrelevant, weswegen wir es in unserer Analyse weglassen.

Erster Ansatzpunkt ist eine im Sommer 2017 gestartete Petition der Organisation RESQSHIP auf der Onlineplattform change.org[1] , mit dem Ziel, die „Schulung und Finanzierung der ‚libyschen Küstenwache’“ zu stoppen. Die Petition richtet sich an nationale sowie europäische PolitikerInnen (bspw. Jean-Claude Juncker, Federica Mogherini, Angela Merkel oder Dimitris Avramopoulos) und bezieht sich auf den seit Oktober 2016 stattfindenden Aufbau einer „libyschen Küstenwache“, welcher durch EU-Gelder finanziert wird (Change.org, 2018). Die Petition lässt bereits auf die politische Motivation der Organisation innerhalb ihres thematischen Schwerpunktes schließen, grenzt sich allerdings noch nicht klar von konventionellem politischen Engagement ab. Während unseres Interviews mit Charlott (im Rahmen unseres Seminars) wird jedoch deutlich, das konventionelles politisches Engagement nicht das Selbstverständnis der Organisation wiederspiegelt: „[…] wir beeinflussen durch unsere Arbeit indirekt die Politik und versuchen das, aber wir können und wollen natürlich auch keinen direkten Einfluss leisten“ (Interview RESQSHIP: 6:36 min).

Wie lässt sich das Engagement der Mitglieder von RESQSHIP also vom konventionellen politischen Engagement abgrenzen?

Seit dem verstärkten medialen Interesse an der zivilen Seenotrettung, ausgelöst durch die Tragödie um die ausharrende „Mission Lifeline“ im Juni diesen Jahres, lassen sich besonders zwei Indikatoren (das Tragen von Protestsymbolen und die Teilnahme an Demonstrationen) für das Protestverhalten der Organisation herausstellen. Beide sind eng miteinander verbunden. In den vergangenen Monaten, Juli und August 2018, veranstaltete RESQSHIP in Kooperation mit anderen Organisationen vermehrt Demonstrationen, wobei die Farbe Orange als Protestsymbol allgegenwärtig war und ist. Das Tragen der Farbe Orange, als Anspielung auf die Farbe von Rettungswesten, soll die Solidarität mit Geflüchteten symbolisieren und ein Zeichen für die zivile Seenotrettung setzen (Frankfurter Rundschau, 2018). Auch Mitglieder von RESQSHIP waren im Juli und August mit orangefarbenen Rettungswesten sowie weiteren orangefarbenen Accessoires ausgestattet bei Demonstrationen, unter anderem in Essen, Freiburg, Mainz und Hamburg, zu finden (vgl. RESQSHIP, 2018b; Allgemeine Zeitung, 2018; Frankfurter Rundschau, 2018).

Auch das Logo von RESQSHIP beinhaltet bereits die Farbe Orange und lässt zudem auf einen Rettungsring innerhalb des Logos schließen. Weiterhin gehen die zivilen Seenotretter, wie auch das jüngste Beispiel um die Crew der „Mission Lifeline“ zeigt, bewusst das Risiko der Verhaftung durch (süd-)europäische Behörden ein. Doch nicht nur die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung durch europäische Staaten bedeutet ein Risiko für die Engagierten, sie müssen außerdem befürchten, durch die libysche Küstenwache, teils mit Waffengewalt, bedroht zu werden (RESQSHIP, 2018). Das bewusste in Kauf nehmen des beschriebenen Risikos grenzt das Engagement der Seenotretter deutlich von den Dimensionen Volunteering und konventionellem politischen Engagement ab.

# DayOrange – RESQSHIP als Teil einer neuen sozialen Bewegung in orange?

Als wir angefangen haben, uns mit der zivilen Seenotrettung im Rahmen des Engagements für Geflüchtete zu beschäftigen, war RESQSHIP bloß ein kleiner neugegründeter Verein, welcher relativ unbekannt war. Der gesamte Diskurs über die zivile Seenotrettung war eher eine Randerscheinung und medial nur punktuell von Interesse. Durch die vergangene Entwicklung im Mittelmeer, dass zivilen Seenotrettungsschiffen wie der „Mission Lifeline“, der „Aquarius“ oder der „Iuventa“ die Einfahrt in südeuropäische Häfen verweigert wird, gewinnt das Thema sowohl an medialer Präsenz als auch an zivilgesellschaftlichem Aktionismus.

„In den letzten Wochen sind in Deutschland 50.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Situation im Mittelmeer, die Kriminalisierung von Seenotrettung und für sichere Häfen für Geflüchtete, zu demonstrieren […]“ (RESQSHIP, 2018b).

Können wir von dem Beginn einer neuen sozialen Bewegung sprechen? Neue soziale Bewegungen sind, genau wie „alte“ soziale Bewegungen (bspw. die Arbeiterbewegung), gesellschaftlichen Ursprungs. Der Unterschied: sie sind zielorientiert organisiert. Sie entstehen, weil Menschen ihrem Willen Gehör verschaffen wollen und diesen auch möglichst durchsetzen wollen (Institut für Soziale Bewegungen, 2018). Um ihr Ziel, also „[…] ihre spezifische Vorstellung von einer erstrebenswerten Beschaffenheit der Gesellschaft“, durchzusetzen (ebd.), bedienen sie sich „verschiedener Formen sozialen Protests […]“ (ebd.).

„Seebrücke nennt sich die Bewegung, die vor einem Monat mit einer Demonstration in Berlin startete, aber längst an allen möglichen Orten in Deutschland vertreten ist. Viele ihrer Mitglieder vernetzen sich über Facebook, Rettungswestenorange ist die gemeinsame Farbe“ (taz.de, 2018).

Die neue Bewegung in orange ist zielgerichtet: gegen das Sterben im Mittelmeer, für die Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine andere europäische Flüchtlingspolitik. Die Bewegung Seebrücke wird von mehr als 70 zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt. Darunter sind natürlich Organisationen mit dem thematischen Schwerpunkt der zivilen Seenotrettung (bspw. RESQSHIP e.V., Sea-Watch, Jugend rettet etc.), aber auch Organisationen wie Oxfam Deutschland e.V., Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte, Chaos Computer Club Berlin e.V., DiEM25 und viele mehr. Auf der Webseite der Bewegung findet sich der Aufruf: „Zeige die Farbe Orange überall als Zeichen der grenzenlosen Solidarität mit Geflüchteten und der Seenotrettung. Trage ein orangefarbenes Tuch – als Halstuch, am Rucksack, um das Halsband deines Hundes, oder hänge eine orangene Fahne aus deinem Fenster. So ist für alle klar, dass du dich für sichere Fluchtwege und Seenotrettung stark machst“ (Seebrücke, 2018). Bis Mitte August (15.08.2018) haben mit Unterstützung der Seebrücke bereits 110 Aktionen (Demonstrationen, Mahnwachen etc.) in ganz Deutschland stattgefunden, bis zum 10. September sind weitere 32 Aktionen geplant (Seebrücke, 2018). Um bei dem Kommentar der taz.de zu bleiben:

„Ein liberal-humanistischer Minimalkonsens quasi, der hier verteidigt wird.“

Fazit

Nachdem nun die verschiedenen Charakteristika politischen Engagements mit Protestcharakter beleuchtet wurden, machen wir eine kurze Zusammenfassung, um anschließend unsere Forschungsfrage zu beantworten. Wir haben untersucht, inwiefern RESQSHIP die spezifischen Charakteristika für politisches Engagement mit Protestcharakter aufweist. Dazu zählten: das Unterschreiben von Petitionen, die Teilnahme an Demonstrationen sowie das Boykottieren von Produkten. Wir haben ebenfalls beleuchtet warum die anderen beiden Dimensionen des Engagements nach Blinkert/Klie, das konventionelle politische Engagement und das Volunteering, das Engagement von RESQSHIP nicht angemessen greifen. Hinsichtlich des politischen Engagements mit Protestcharakter hat unsere Forschung ergeben, dass diese drei Merkmale durchaus auf den Verein RESQSHIP zutreffen. Zieht man die Erkenntnisse aus dem Interview hinzu und betrachtet die Positionen von Homepage, Petition und Demonstrationen, lässt sich feststellen, dass sich der Verein bzw. dessen Mitglieder gegen die derzeitige politische Lage positionieren und eine Abschottung Europas stark ablehnen. Folglich können wir ebenfalls den Protest gegen eine „Festung Europa“ bestätigen. Es aber nur als politisches Engagement mit Protestcharakter zu charakterisieren greift unserer Meinung nach zu kurz, da dem Verein primär eine humanitäre Notwendigkeit, dem Retten von Menschenleben, zugrunde liegt. Diese Arbeit der Search & Rescue-Missionen machen die Seenotretter, da es von nationaler oder europäischer Seite keine adäquate Mission mit diesem Ziel gibt. Das oberste Ziel ist also erst einmal: Seenotrettung. Hinter der Seenotrettung stecken dann die Forderungen nach einer Veränderung des europäischen Asylsystems, sicheren Fluchtrouten und der Bekämpfung der Fluchtursachen.

Ein Beitrag von Sandra Breslauer, Jolke Mertesacker und Rosina Ehrhardt

Quellverzeichnis:

ALLGEMEINE ZEITUNG (06.08.2018): Mainzer Demo fordert Sicherheit für Mittelmeer-Flüchtlinge. Abgerufen von: http://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/nachrichten-mainz/mainzer-demo-fordert-sicherheit-fuer-mittelmeer-fluechtlinge_18975806.htm (28.08.2018)

Blinkert, Baldo/ Klie, Thomas (2018): Zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland und Europa (339-424) in Engagement und Zivilgesellschaft. Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht, Wiesbaden

Change.org (2018): Stoppt die Schulung und Finanzierung der „libyschen Küstenwache“, eine Petition von RESQSHIP. Abgerufen von: https://www.change.org/p/stoppt-die-schulung-und-finanzierung-der-libyschen-k%C3%BCstenwache (28.08.2018)

Davies, Lizzy und Neslen, Arthur (31.10.2014): “Italy: end of ongoing sea rescue mission ‘puts thousands at risk’” The Guardian. Abgerufen von: https://www.theguardian.com/world/2014/oct/31/italy-sea-missionthousands-risk (28.08.2018)

Europäische Kommission (2014): Frontex Joint Operation ‚Triton’. Abgerufen von: http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-14-566_en.htm (28.08.2018)

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FRANKFURTER RUNDSCHAU (04.08.2018): Day Orange in Frankfurt und Mainz – „Lasst die Würde nicht ertrinken“. Abgerufen von: http://www.fr.de/frankfurt/day-orange-in-frankfurt-und-mainz-lasst-die-wuerde-nicht-ertrinken-a-1557201 (28.08.2018)

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Koller, Emily (2017): Mare Nostrum vs. Triton, University of Toronto. Abgerufen von: https://munkschool.utoronto.ca/ceres/files/2017/10/Paper-Emily-Koller.pdf (28.08.2018)

Ministeto della Difesa: Mare Nostrum. Abgerufen von: http://www.marina.difesa.it/EN/operations/Pagine/MareNostrum.aspx (27.08.2018)

Musaro, Pierluigi (2016). “Mare Nostrum: The Visual Political of a Military-Humanitarian Operation in the Mediterranean Sea”. Media Culture & Society:39(1)

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Scherer, Steve & Di Giorgio, Massimiliano (31.10.2014): “Italy Ends Sea Rescue Mission that Saved 100,000 Migrants.” Reuters. Abgerufen von: http://www.reuters.com/article/us-italy-migrantseu-idUSKBN0IK22220141031(28.08.2018)

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Sunderland, Judith (20.02.2015): Wie viele Menschen müssen sterben, bevor Europa handelt? auf Zeit Online. Abgerufen von: https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/fluechtlinge-tod-mittelmeereuropa-migration (27.08.2018)

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[1] https://www.change.org/p/stoppt-die-schulung-und-finanzierung-der-libyschen-k%C3%BCstenwache

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