(Alle Fotos in diesem Beitrag sind private Aufnahmen)
Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist eine ökologische Lebensweise in verschiedenen Hinsichten populär geworden. Zum einen hat ökologisches Leben Einzug in die Ernährungs- und Konsumweisen gefunden. Beispiele hierfür sind eine vegetarische oder vegane Ernährung, um zum Klimaschutz und/oder zu einer besseren Tierhaltung beizutragen. Die Zero-Waste-Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst keinen Abfall zu produzieren und durch das sogenannte Containern, versuchen Menschen die Verschwendung von Lebensmitteln und Alltagsprodukten zu vermeiden. Zum anderen lässt sich der Trend auch in den Wohn- und Bauarten einzelner Individuen beobachten. Von allgemein technischen Fortschritten (Energieeffizient etc.) abgesehen, gibt es Wohnprojekte, deren Existenz primär auf der Vorstellung basiert, umweltverträglicheren Wohnraum zu schaffen. Exemplarisch lassen sich an dieser Stelle Baumhäuser, verschiedene Varianten von Mehrgenerationenhäuser oder auch ökologische Siedlungen nennen. Meistens wird mit solchen Lebensformen das Ziel verfolgt, sich von den gängigen sozialgesellschaftlichen Lebensweisen zu lösen und mögliche Alternativen zugunsten des Umweltschutzes oder der Gesellschaft aufzuzeigen. Für dieses Ziel, stellt die präfigurative Politik eine passende Beschreibung dar. Es handelt sich um ein Konzept, bei der Individuen oder auch Gruppen von Individuen versuchen, durch das eigene Handeln einen Wandel der Gesellschaft herbeizuführen.
Um herauszufinden, ob es sich bei solch einer ökologischen Lebensweise um dieses Ziel, also um Präfiguration handelt, hat sich der folgende Essay auf eine ökologische Siedlung in Nordrhein-Westfalen fokussiert, weil diese aufgrund einer ökologischen Bauweise mit nachhaltigen Rohstoffen ein Beispiel für eine umweltfreundliche Lebensweise darstellt. Das Forschungsinteresse wurde durch zwei Fragen geweckt. Die erste Frage, die sich stellt ist, inwieweit das Leben der Bewohner durch die Entscheidung, in die Siedlung zu ziehen, beeinflusst wurde. Die zweite Frage lautet „inwiefern unterscheidet sich dieses Leben von der konventionellen Wohnkultur?“. Aus diesen Fragen ergab sich die Forschungsfrage des Essays, bei der in Erfahrung gebracht werden soll, inwieweit sich das Leben in einer ökologischen Wohnsiedlung mit dem Konzept der präfigurativen Politik erklären lässt.
Hierzu wird wie folgt vorgegangen. Einleitend wird in das bereits erwähnte theoretische Konzept der präfigurativen Politik eingeführt, da dieses den Grundstein für die Analyse des Fallbeispiels legt. Darauf aufbauend werden die Erwartungen ans Feld formuliert, welches dieses wissenschaftliche Konstrukt nahelegt. Im Hauptteil wird mithilfe von neun problemzentrierten Interviews zunächst die Entstehungsgeschichte der Siedlung beschrieben, weil die Anfangsphase eine wichtige Grundlage für den späteren Zusammenhalt der BewohnerInnen darstellt. Anschließend wird das Fallbeispiel mithilfe der von Luke Yates formulierten fünf sozialen Prozesse analysiert. Dabei wird im Besonderen auf die Motivation und Beweggründe für den Einzug in die Siedlung, die Praktiken innerhalb der Siedlung, die Institutionalisierung von Normen und Werten, die Einbettung in das materielle Umfeld sowie auch auf mögliche Verbreitungsformen des Engagements eingegangen. Durch diese Schritte ist es möglich theoriebasiert zu schlussfolgern, ob es sich bei dem ausgewählten Fallbeispiel um eine Form von präfigurativer Politik handelt oder die Siedlung eine andere Art Typus darstellt.
Das Konzept der präfigurativen Politik: „be the change you want to see”
Zu Beginn soll erst einmal in das Konzept der präfigurativen Politik eingeführt werden, welches nahelegt, dass es sich beim Wohnen in einer ökologischen Siedlung um eine Form von Engagement handeln könnte. Diese Engagementform wird in der Regel den new social movements zugeschrieben und wurde erstmals 1977 von Carl Boggs benannt, um die Verkörperung dieser Form politischer Praxis innerhalb von sozialen Bewegungen sprachlich greifbar zu machen. Der Begriff der präfigurativen Politik, beschreibt vor allem die Fokussierung einer spezifischen (Sub)Kultur von menschlichen Erfahrungswerten auf die Erschaffung einer für als erstrebenswert angesehenen Zukunftsvision in der Gegenwart. Dies beinhaltet unter anderem auch die internen sozialen Bindungen und den Vorgang der Entscheidungsfindung (Yates 2015:1).
Oft charakterisiert durch Slogans wie „another world is possible“ oder „be the change you want to see“ fand diese Form des Engagements großen Anklang bei Individuen, die sich von den abstrakten Prinzipien der alten Linken entfernten (Cornish 2016:1; vgl. Boggs 1977). Sie haben sich stattdessen mit der Möglichkeit beschäftigt, die Gesellschaft durch tatsächlich vorhandene menschliche Kapazitäten und aktives Handeln zum Besseren zu verändern (Cornish 2016:1; vgl. Boggs 1977). In diesem Abschnitt werden die drei wichtigsten Bestandteile dieser Form des Engagements kurz zusammengefasst, um dem Leser einen Einblick darüber zu verschaffen, inwiefern sich eine alternative Lebensweise, wie sie im Beitrag behandelt wird, mittels dieses theoretischen Konzepts fassen lässt. Die wichtigsten drei Eigenschaften präfigurativer Politik sind erstens die Mittel-Ziel Äquivalenz (means-ends equivalence), zweitens das Schaffen von Alternativen (building alternatives) und drittens das Konzept der Prolepsis (prolepsis). Zwecks weiterer Abgrenzung zu anderen gruppendynamischen Phänomenen wird des Weiteren auf fünf zusammenhängende soziale Prozesse eingegangen.
Die Mittel-Ziel Äquivalenz: Der Weg ist das Ziel
Einer der wichtigsten Eigenschaften präfigurativer Politik ist eine Mittel-Ziel Äquivalenz (means ends equivalence). Der Begriff der Mittel umfasst in diesem Falle die Palette aller kurzfristig umsetzbaren Handlungsmöglichkeiten, die einer Gruppe oder Individuen zur Verfügung stehen. Diese sollten das Ziel der Gruppe reflektieren, beziehungsweise sogar gleichwertig mit diesem sein (vgl. Yates 2015:3 f./ 15).
Exemplarisch zusammengefasst könnte dies so aussehen: Eine Gruppe von Individuen die sich zusammenschließen, um gemeinschaftlich so zu leben, wie sie es für die Zukunft der Gesellschaft als richtig und wichtig erachten. Gemeinsam motiviert von einer solchen Utopie kann man einen gemeinsamen Nenner verhandeln, was die gewünschten Mittel und das gewünschte Ziel angeht und nun (in gewissem Umfang) direkten Einfluss auf bestimmte Aspekte der Lebensführung nehmen, bei denen man glaubt, dass Verbesserungen nötig seien. In gewisser Weise ist man in der Lage, einen Teil der gewünschten Ideen in der Gegenwart zu leben, indem man „bei sich selbst anfängt“.
Die Mittel-Ziel Äquivalenz stellt einen wichtigen Punkt von allgemein systematischen und transformativem Handeln dar. Auch wenn eine „perfekte“ Mittel-Ziel Äquivalenz in der Praxis schwer zu finden ist (ein alternatives Wohnprojekt bedeutet noch keine Utopie), sind es gerade die mikropolitischen Praktiken der Handlungen selbst, die in der Präfiguration eine wichtige Rolle spielen. Allgemeine Hindernisse wie z. B. zwischenmenschliche Organisation, technische Hürden oder bürokratische Stolpersteine sind Teil eines jeden Projektes. Durch die Auseinandersetzung mit diesen, sind Gruppen in der Lage, sich einen gewissen Erfahrungsschatz anzueignen und auf diesen zurückzugreifen (vgl. Yates 2015: 18).
Building Alternatives: Lasst es uns mal anders machen
Soll eine relativ konkrete Utopie in der Gegenwart gelebt werden, ist dies in der Praxis auf zweierlei Wegen möglich: Man kann erstens, auf bestimmte Formen der Protestführung zurückgreifen und sich Gehör für sein Anliegen verschaffen. Ein Beispiel wäre die kurzfristige Inbesitznahme weltweiter Handelszentren durch die TeilnehmerInnen der Occupy Bewegung mit dem Ziel, den Raum zu beanspruchen der ihnen zustände. Die zweite (und in diesem Essay im Fokus stehende Möglichkeit) ist das Einrichten von alternativen und/oder neuen Institutionen, die allein durch ihre Existenz den Status Quo kritisieren und Interessierten im Idealfall eine handfeste Alternative bieten können (Yates 2015: 4). Da aber nun nicht jede Alternative oder jedes parallele Projekt, dass irgendwo geboten wird, direkt mit Engagement geschweige denn präfigurativer Politik gleichzusetzen ist, müssen Einschränkungen gemacht werden um sie von allgemeinem Sub- oder gegenkulturellen Aktivitäten abzugrenzen:
„building alternatives should only be seen as prefiguration (and can only be distinguished from subcultural or counter-cultural activity) when combined and balanced with processes of consolidation and diffusion”. (Epstein 1991: 122)
Wichtig ist hier also der Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft, Mobilisierung und eine gewisse Form von Macht- bzw. Aufgabenteilung, um eine ausreichende Trennung zu allgemein gängigen Ausdrucksformen kollektiver Identität zu schaffen. Handlungen die zum Beispiel nur basierend auf gegenseitiger Sympathie durchgeführt werden, sind keine Form von aktivem Engagement.
Prolepsis: Mit der Zukunft in die Gegenwart
Prolepsis beschreibt im Allgemeinen, dass den aufgewendeten Mitteln ein bestimmter Nutzen oder eine größere Bedeutung in der nahen Zukunft zugerechnet wird. Dadurch, dass man eine bestimmte Vorstellung von der Zukunft hat, wird es möglich auch schon in der heutigen Zeit darauf zu reagieren und somit der Zukunft vorzugreifen (Yates 2015: 4). Einfacher ausgedrückt umschreibt der Begriff der Prolepsis die Zukunftsgerichtetheit der von den Akteuren durchgeführten Handlungen.
Fünf soziale Prozesse: Wo beginnt politisches Handeln?
Um deutlicher festzustellen, ob es sich bei einem vorgefundenen Projekt oder bei individuellen Handlungen, wie abgeänderte Alltagspraktiken um eine Form von präfigurativer Politik handelt, kann man sich der Hilfe der von Luke Yates formulierten fünf sozialen Prozesse bedienen, welche in einem solchen Fall zusammenhängend zu beobachten sind. Dies hilft der Abgrenzung zu generellen Ausdrucksformen von Gruppendynamiken ohne direkte politische Motivationen (Yates 2015: 13 ff.).
Zuallererst beinhaltet präfigurative Politik das Experimentieren mit Alternativen für zukünftiges Handeln. Seien es nun Alltagspraktiken oder langfristig geplante Projekt- und Politikformen. Wichtig ist das Ziel der direkten Anwendung von Handlungsalternativen die, den Akteuren nach, einen besseren Umgang mit den Problemen und Herausforderungen der Zukunft ermöglichen. Ein zweiter Aspekt ist die Arbeit mit social Movement Frames. Bestimmte politische Perspektiven, Ideen und Ideologien sozialer Bewegungen, werden innerhalb des Projektes vertreten, entwickelt und kritisiert. Hier drauf beruht in diesem Fall die geistige Abgrenzung der Akteure, zu den von ihnen kritisierten Standards und deren Vertretern. Die Etablierung kollektiver Normen und Routinen innerhalb der Gruppe bilden den dritten sozialen Prozess. Routinen sollten sich stark mit Bezug auf die experimentelle Praxis entwickeln, die dem präfigurativem Handeln ja zugrunde liegt. Das Herausbilden bestimmter Normen ist gerade in Bezug auf die politische und ideologische Perspektive interessant. Als vierter Punkt ist der Eingriff oder die Einbindung in ein materielles Umfeld zugunsten einer bestimmten sozialen Ordnung gelistet. Demnach muss insofern Einfluss auf das materielle Umfeld genommen werden, dass die gewünschte Art und Weise der Interaktion von Akteuren innerhalb des Projektes gefördert wird. Und letztlich formuliert Yates an fünfter Stelle die Demonstration und Verbreitung über die Gruppen und Kollektive hinaus. Dies bezieht sich auf Praktiken, Mittel, Perspektiven und vieles mehr. Eine Gruppe arbeitet demnach präfigurativ, sobald sie „Außenwerbung betreibt“. Der Grundgedanke hierbei bezieht sich auf die Tatsache, dass man nicht wirklich von einer Form des Engagements reden kann, sofern die Beteiligten lediglich zu ihrem eigenen Wohl handeln ohne den Gedanken zu verfolgen ein gewisses Handlungskonzept der breiteren Masse als Alternative für bestimmte herrschende Standards aufzuzeigen.
Unsere Erwartungen an das Feld
Mithilfe dieser theoretischen Grundlagen galt es nun, Erwartungen auszuformulieren, die ein solches Wohnprojekt als eine Form präfigurativer Politik qualifiziert. Diese sollten dann nach der Besichtigung der Siedlung und der Durchführung der problemzentrierten Interviews mit den uns vermittelten Eindrücken abgeglichen werden. Ziel ist es festzustellen, ob es sich beim Leben in der von uns ausgewählten Dorfgemeinschaft, um eine Form von präfigurativer Politik handelt. Alle folgenden Szenarien sind demnach Teil einer ganzen Palette von Möglichkeiten die sich, entlang der von Yates formulierten Prozesse zu einem „Lehrbuch-Beispiel“ präfigurativer Politik kombinieren würden.
So könnte also erstens damit gerechnet werden, dass dort in einer oder mehreren Formen mit Alternativen für zukünftiges Handeln experimentiert wird. Beginnend mit dem offensichtlichsten Faktor; einer im Vergleich zum gewohnten Wohnungsmarkt einer Großstadt deutlich umweltschonenderen Wohnsituation. Sei es durch den Bezug bereits bestehender aber für den Großteil der Wohnungssuchenden nicht direkt offensichtlichen Möglichkeit sich niederzulassen, oder durch den gezielten Einsatz bautechnischer Verfahren mit dem besonderen Hauptaugenmerk auf ökologische Schonung des Gebietes. Der übergeordnete Zweck sollte es sein, neuen Wohnraum zu schaffen, der im besten Fall für den Durchschnittsbürger auch finanziell erschwinglich ist. Über die ökologisch orientierte Wohnraumbeschaffung hinaus, könnten auch Projekte wie beispielsweise Repair-Cafes (also regelmäßige Zusammenkünfte, welche auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe basieren, in dessen Rahmen beschädigte Gegenstände von dementsprechend erfahrenen Menschen wieder in Stand gesetzt werden) von den Bewohnern initiiert worden sein, um eine alternative Möglichkeit zum Verhalten der sogenannten „Wegwerfgesellschaft“ anzubieten. Einen anderen denkbaren Faktor dieser Kategorie würde beispielsweise die Nutzung alternativer Energien darstellen, wie, beispielsweise, die Gewinnung von elektrischem Strom durch Solarzellen.
Bezogen auf die erwähnte Arbeit mit social movement Frames könnte man zweitens davon ausgehen, dass bestimmte politische Ideologien, Motivationen und Ähnliches relativ einstimmig innerhalb des Dorfes verbreitet sind und verwandte Themen aktiv behandelt werden. Neben dem Grundgedanken des Umweltschutzes könnte Urbanisierungskritik und die damit zusammenhängende Anonymisierung im modernen Großstadtleben ein solches Thema sein. Hierdurch würde ein solches Projekt über ein zweckmäßiges Zusammenleben hinausgehen und zu einer Quelle zukünftiger Lösungsansätze für gemeinschaftlich formulierte Anforderungen der Zukunft werden. Des Weiteren wäre es gut möglich, dass innerhalb der Siedlung, ob kollektiv organisiert oder sporadisch, mit anderen ökologisch motivierten Gruppierungen oder Bewegungen des social-justice movements zusammengearbeitet, Kontakt gehalten oder generell sympathisiert wird. Seien diese nun hoch organisierte Parteien wie Bündnis 90/Die Grünen und Organisationen wie „Greenpeace“ oder kleinere, weniger organisierte movements wie die Zero-Waste Bewegung oder Menschen die aktiv „Containern“, also hingegen juristischer Richtlinien noch genießbare Nahrungsmittel aus den Müllcontainern von Supermärkten bergen, um der unnötigen Verschwendung dieser Ressourcen entgegenzuwirken.
Drittens könnte man denken, dass sich bestimmte Normen und Routinen unter den Bewohnern durchsetzen und bei grobem Verstoß eine gewisse Art von Sanktion oder zumindest die Missgunst anderer Bewohner nach sich ziehen. Seien es nun Alltagspraktiken, die im Vergleich zum Durchschnittsbürger lediglich wesentlich bewusster ausgeführt werden (wie beispielsweise der Umgang mit Konsumgütern oder Mülltrennung), bis hin zur Boykottierung von Auto- oder Flugverkehr. Auch ließe sich eine autarke Lebensweise hier einordnen, also ein hohes Maß an Selbstversorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern oder die Nutzung allgemein unkonventioneller Quellen für ebendiese. Im praktisch möglichen Bereich könnte mit den üblichen Beschaffungsformen zugunsten der ökologischen Nachhaltigkeit gebrochen werden. Drüber hinaus ließen sich auch unkonventionelle Formen der Entscheidungsfindung oder alternative Vertretungsorgane erwarten. Hierdurch könnte man den Organisationsanforderungen eines solch umfangreichen Wohnprojektes gerecht werden. Zeitgleich würde eine spezifische soziale Ordnung konstruiert, die sich von einer gewöhnlichen Nachbarschaft abhebt. Äußern könnte sich diese in regelmäßigen Sitzungen und Abstimmungen über weiteres Handeln oder gegebenenfalls Entscheidungen für oder gegen bestimmte gemeinschaftliche Anschaffungen.
Viertens kann man auch davon ausgehen, dass die Bauweise beziehungsweise die Nutzung der verfügbaren Fläche darauf ausgelegt ist, eine bestimmte Art und Weise des Zusammenlebens im Sinne der Zukunftsvision der Bewohner zu fördern. Es wäre damit zu rechnen, dass die Beteiligten darauf abzielen, das verfügbare materielle Umfeld maximal effizient zu nutzen und sich gewisse Bereiche teilen. Beispiele wären größere Gemeinschaftsräume oder generell Räumlichkeiten deren Anschaffung oder Instandhaltung großen Einsatz finanzieller oder technischer Mittel abverlangt wie in etwa Werkstätten oder Fitnessräume. Auch die Nutzung zentraler Versorgungsanlagen für Wasser, Strom und ähnliches würden in einem solchen Fall keine große Überraschung sein. Deren gemeinschaftliche Nutzung könnte den Einzelnen im Idealfall zu einem gewissenhafteren Verbrauch ebendieser Ressourcen veranlassen. Ebenso könnte der Aspekt der gemeinsamen Verantwortlichkeit für Kosten und Funktion der Versorgung, gegenseitige Rücksichtnahme und regelmäßigen Austausch unter den BewohnerInnen abverlangen.
Fünftens kann man bezüglich des letzten Punktes, der Demonstration und Verbreitung von Praktiken, Ordnungen, Mitteln und Perspektiven über die Gemeinschaft hinaus, erwarten, dass die Ansässigen eines solchen Wohnprojektes auch außerhalb des siedlungsinternen Geschehens aktiv für ihre Überzeugungen einstehen und werben, um den ihren Handlungen zugrundeliegenden Idealen mehr Reichweite zu verleihen. Dies könnte die Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Diskussionsforen rund um das Thema des Umweltschutzes bedeuten und es wäre gut möglich, dass durch die jahrelange Praxis gesichertes Wissen auch dafür eingesetzt wird, um ähnliche Projekte zu fördern und sich mit Gleichgesinnten oder Interessierten über die Möglichkeiten und Probleme der Umsetzung einer solchen Lebensweise auszutauschen. Wer sein praktisches Wissen weitergibt, verhilft seiner Zukunftsvision schließlich einen großen Schritt weiter in Richtung Massentauglichkeit.
Die Entstehungsgeschichte
Die untersuchte ökologische Siedlung befindet sich in einem etwas außerhalb gelegenen Stadtteil einer Großstadt im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Die Siedlung wurde im Jahre 1989 fertig gestellt (Interview 18.09.2017). Das Ökodorf hat Hanglage, ist an zwei Seiten von einem direkt angrenzenden Wald beschränkt und liegt am Ende einer Sackgasse. Die ökologische Siedlung besteht aus dreißig Einfamilienhäusern, die trotz äußerlicher Gemeinsamkeiten im Inneren alle unterschiedlich gestaltet sind. Des Weiteren wurde ein ca. 100 m² großes Gemeinschaftshaus gebaut, zu welchem alle BewohnerInnen Zugang haben. Die Häuser der Anlage sind nur fußläufig über die drei Wohnwege zu erreichen, welche schmal gepflasterte Gehwege sind. Autoverkehr ist nicht möglich.
Bereits Mitte der 80iger Jahre begann die Planung der Ökodorfsiedlung. Eine Gruppe Eltern, die ihre Kinder in die lokale Walddorfschule schickten, beschloss, das Dorf nach dem Vorbild einer bereits in Deutschland existierenden ökologischen Siedlung zu bauen. Für dieses Bauvorhaben wurde zunächst Bauland gesucht, welches in einem Nachbarstadtteil der Stadt gefunden wurde. Dafür trat die Gruppe mit einem Gesuch an die Stadtverwaltung heran. Die Stadt verkaufte das Grundstück mit der Auflage, dass dreißig Wohneinheiten geschaffen werden müssen (Interview 28.08.2017). Im Anschluss begann die konkrete Planung des Ökodorfes. Die zwei Architekten, welche bereits die bestehende ökologische Siedlung konzipiert hatten, wurden für das Bauvorhaben engagiert. Außerdem ein Bauunternehmen, welches pro Quadratmeter einen einheitlichen Kaufpreis für die BauherrInnen ausgerechnet hat. Gleichzeitig wurde nach weiteren Baufamilien gesucht, was auf unterschiedliche Art und Weise gelang. Manche Baufamilien wurden durch Artikel in der lokalen Zeitung aufmerksam, andere sind durch Empfehlungen zu dem Projekt gestoßen. Die Entscheidungen, Teil des Projekts „Ökodorfs“ zu werden, wurde von den meisten BewohnerInnen innerhalb weniger Tage gefällt (vgl. Interview 11.09.2017; Interview 18.09.2017; Interview 06.10.2017). Die Begründung, Bauherrin (Interview 18.09.2017) zu werden, fasst eine Bewohnerin mit der Beschreibung ihres ersten Besuches des Baugrundstücks zusammen:
An einem ganz trüben, nebeligen Januartag haben wir uns dieses Gelände angeguckt und sahen hier den Wald. […] Es war ja schon schön. Also ganz verwildert, ne? Und dann der Wald und dann war uns klar – ja, das machen wir. Und ich glaub‘ nach 14 Tagen hatten wir einen Vertrag beim Bauträger schon in der Tasche [..].
Anschließend begann die konkrete Planung der Häuser nach den Bedürfnissen und Vorstellungen der einzelnen Baufamilien. Dazu fanden wöchentliche Sitzungen mit allen Familien in Groß- und Kleingruppen statt. In der Großgruppe wurde das ökologische, soziale und städtebauliche Konzept besprochen. In den Kleingruppen von fünf bis sechs Familien wurden die individuellen Bedürfnisse geklärt, sodass 1988 der Bau der Wohnanlage beginnen konnte (Arbeitsgemeinschaft Holz e.V. 1991: 3). Das gesamte Projekt wurde bereits zu Beginn durch die Insolvenz des Bauträgers auf die Probe gestellt. Diese löste bei den BewohnerInnen nicht nur Ungewissheit und Ratlosigkeit aus, sondern verzögerte den zu 1/3 fertiggestellten Bau um mehrere Monate. Das bedeutete, dass die BewohnerInnen für die ungewisse Übergangszeit „nochmal eine Wohnung suchen […] und umziehen mussten“ (Interview 18.09.2017). Die Lösung des Problems stellte der Entschluss der Gruppe dar, dass Projekt in Eigenregie abzuschließen. Dabei ist der besondere Einsatz der Eigenleistung und der solidarischen Zusatzfinanzierung zu betonen. Die Baufamilien haben beispielsweise die Isolierung der Häuser durchgeführt oder den Innenausbau übernommen (Interview 11.09.2017; Interview 18.09.2017). Überdies haben sich fast alle Parteien solidarisch gezeigt und zwischen zehn- und fünfzehntausend D-Mark nachgezahlt. Nur drei Parteien haben sich der Zahlung verweigert (ebd.).
Die ökologischen Elemente des Dorfs beschränken sich auf die verwendeten Baumaterialien und den ressourcenschonenden Betrieb der Häuser. Die BewohnerInnen verzichten auf die Verwendung giftiger Farbe, sodass keine Giftstoffe ins Grundwasser versickern können. Zudem wurde darauf geachtet, dass das Dorf mit einer relativ hohen Dichte gebaut wird (Arbeitsgemeinschaft Holz e.V. 1991: 2). Das flächensparende Bauen hatte das Ziel, der Natur möglichst wenig Raum zu enteignen (Interview 11.09.2017). In diesem Kontext kann man exemplarisch die Heizungsanlage nennen, welche aus zwei Blockheizkraftwerken besteht. Zum einen sind sie platzsparend, da keine Familie einen extra Anbau benötigt, zum anderen ist diese Art des Heizens ressourcensparend, da das warme Wasser und das Heizungswasser innerhalb eines größeren Kreislaufs zirkuliert (Interview 01.09.2019; Interview: 11.09.2017; ihr-BHKW 2017). Ferner bietet die Siedlung einen weiteren ökologischen Vorteil. Die Ökodorfsiedlung wurde so konzipiert, dass man sie im Prinzip gänzlich zurückbauen kann. Die Baumaterialien können vollständig recycelt werden, sodass nur die Bodenplatten zurückbleiben würden (Interview 01.09.2017).
Die Entstehung eines social centers
Durch das gemeinsame Bauen aller BewohnerInnen und der Insolvenz des Bauträgers entwickelte sich „dieser Gruppencharakter und dieser Gruppenzusammenhalt sehr intensiv“ (Interview 19.08.2017a). Dies bedeutet somit, dass neue Kommunikationswege und ein besonderes Gruppenempfinden in Form eines social centers in der Anlage geschaffen wurden. Ein social center ist durch drei Elemente gekennzeichnet. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass sich Individuen in einem kleinen, geschützten Raum austauschen und näher kennenlernen können, zum anderen bietet der geschützte Raum die Chance, Kritik an dem vorherrschenden, gesellschaftspolitischen System äußern zu können (Poletta 1999: 3). Überdies können innerhalb des Raums Netzwerke aufgebaut werden.
Anhand von diesen Punkten kann sich eine kollektive Identität entwickeln und festigen. Dieses Umfeld begünstigt das Etablieren neuer Normen und Werte, da es den meisten Individuen leichter fällt in einer kleinen Gruppe ihre Meinung zu äußern (ebd.). In dem Fallbeispiel wurden die Kleingruppen eingerichtet, um dort die eigenen Bedürfnisse nennen zu können. Auf Basis dessen läge es nahe, dass das social center ökologisch orientiert ist. Unter genauerer Betrachtung hat es sich allerdings als nicht-ökologisch herausgestellt.
Die Ökodorfsiedlung als präfigurative Politik? – Eine Analyse
Auf der Entstehungsgeschichte aufbauend wird in den folgenden Kapiteln das Fallbeispiel anhand von Yates fünf sozialen Prozessen analysiert. Dazu wird schrittweise vorgegangen. Jedem einzelnen Prozess wird ein Kapitel gewidmet, in welchem dieser kurz vorgestellt und anschließend angewendet wird. Das Ziel der Kapitel ist es, festzustellen, ob das Leben in der Ökodorfsiedlung ein Beispiel für präfigurative Politik darstellt.
Experimentation – Eine Analyse des ersten sozialen Prozesses
Laut Yates‘ (2015:13) erstem sozialen Prozess beinhaltet präfigurative Politik Experimentation. Akteure versuchen, neue Handlungsalternativen in einem experimentellen und selbstreflektierenden Prozess zu etablieren. Die Motivation hinter Experimentation ist entscheidend. Der Wunsch dahinter ist, die Gegenwart zu verändern.
Es hat sich mehr oder weniger ergeben
Um das Ökodorf anhand des ersten sozialen Prozesses zu analysieren ,wird zunächst ein Beispiel für Experimentation vorgestellt und anschließend die Motivation dahinter behandelt.
Der Bau der ökologischen Siedlung in den 80iger Jahren stellt eine Form der Experimentation dar. Dies kann man anhand von drei Argumenten festmachen. Erstens kann man bei einem so großen Bauvorhaben nicht alle Eventualitäten ausschließen. Insbesondere gilt dies, wenn es noch sehr wenig Erfahrung bezüglich der Bauart gibt. Die Aussage, dass „auch von Architekten-Seite […] durchaus einige Fehler gemacht worden“ sind, bestätigt dies (Interview 06.10.2017). Zweitens wurden ökologische Elemente verwendet, die zur damaligen Zeit unkonventionell waren. Dies trifft zum Beispiel auf die Grasdächer zu (vgl. Interview 28.08.2017). Darüber hinaus ist die Existenz des Dorfes auf Jahrzehnte angelegt. Innerhalb dieser Jahre werden sich die Individuen im social center miteinander auseinandersetzen, sich weiterentwickeln und selbstreflektieren.
Es existieren eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren, die eine Entscheidung für die Teilnahme am Projekt positiv beeinflussen. Der ökologische Aspekt wurde nur von der Minderheit der BewohnerInnen als der ausschlaggebende Faktor angeführt. Aspekte wie der Kaufpreis, die Lage, die Lebensqualität und die verändernde Familiensituation waren entscheidend (Interview 6.10.2017). Die Mehrheit der BauherrInnen waren Eltern. Sie waren auf der Suche nach einer Immobilie mit mehr Wohnraum, sodass der Bau eines Hauses in der Siedlung eine gute Gelegenheit darstellte (Interview 06.10.2017). Außerdem berichten die Interviewten, dass die Lage des Grundstücks für die Kaufentscheidung entscheidend war. Einige Kinder „waren hier auf der, in der nähe [sic] liegenden, Walddorfschule“ oder haben bereits in dem Stadtteil gewohnt (ebd.). Ferner konnte die Gruppe das Grundstück für damalige Verhältnisse günstig kaufen, sodass der berechnete Gesamtpreis der Immobilie für die Familien erschwinglich war (ebd.). Ähnliches berichtet auch ein Interviewter, der vor wenigen Jahren ein Haus in der Wohnanlage gekauft hat. Er (Interview 01.09.2017) beschreibt die Immobiliensituation als eine, „die einfach extrem angespannt ist“, sodass es sehr schwer ist, eine Bestandsimmobilie zu einem fairen Preis-Leistungs-Verhältnis zu finden. Dies war in der Siedlung der Fall. Die hohe Lebensqualität sei ein starker Grund, wieso die AnwohnerInnen gerne in dem Dorf leben. Dies wird dadurch deutlich, dass die BewohnerInnen der Häuser den Wunsch geäußert haben, erst mit ihrem Lebensende das social center endgültig verlassen zu wollen. Aussagen wie, „es ist mein Ziel. Mit den Füßen zuerst raus!“ machen dies deutlich (Interview 18.09.2018). Die Grasdächer, weitere Begrünung und das Design der Ökodorfsiedlung tragen dazu bei. Für Kinder sei diese Umgebung ein gutes Umfeld aufzuwachsen (vgl. Interview 28.08.2017; Interview 01.09.2017; Interview: 18.09.2017).
Der ökologische Grundgedanke des Bauprojekts wird von den BewohnerInnen positiv angesehen und diese identifizieren sich damit. Das war für die Mehrheit allerdings nur ein Zusatz und kein Kriterium. Ökologie „war nicht der ureigentliche Auslöser“ und es „hat sich dann mehr oder weniger ergeben und ist für […] [die BewohnerInnen] gut gegangen“ (Interview 19.08.2017b; Interview 06.10.2017).
Aus diesen Aspekten kann geschlussfolgert werden, dass die Motivationen, in die ökologische Siedlung zu ziehen, auf unterschiedlichem basiert, aber nicht auf dem ökologischen Aspekt. Darüber hinaus bedeutet dies, dass das Prinzip Experimentation zwar in dem Ökodorf vorliegt, allerdings ebenfalls nicht ökologisch motiviert ist. Die Motivation, Teil des Projekts zu werden, liegt eher in den rationalen Aspekten und persönlichen Vorlieben der BewohnerInnen.
Soziale Praktiken stabilisieren die Gemeinschaft – Eine Analyse des zweiten sozialen Prozesses
Yates (2015:14) besagt in seinem zweiten sozialen Prozess, dass präfigurative Gruppen unterschiedliche Veranstaltungen organisieren, um dadurch die vorherrschende politische Sichtweise, Ideen und sozialen Bewegungen zu kritisieren. Dabei können die Praktiken sehr unterschiedlich gestaltet sein. Das Spektrum reicht von Seminaren und Informationsveranstaltungen bis hin zu Demonstrationen.
Praktiken mit zusammenschweißende Funktion
Da ökologische Faktoren weder primär noch sekundär Motivatoren für die meisten BewohnerInnen waren, liegt nun der Fokus auf dem social center. Dieser Freiraum ermöglicht es den AnwohnerInnen, sich untereinander auszutauschen und verschiedene Praktiken zu entwickeln. Im folgenden Abschnitt ist zu untersuchen, ob dieser Raum unter kritischen Aspekten ökologisch motiviert genutzt wird.
Die Mehrheit der durchgeführten Praktiken dient dazu, den sozialen und solidarischen Charakter der Wohnanlage aufrechtzuerhalten, der in der Bauphase, speziell nach der Insolvenz des Bauunternehmers, entstanden ist. Dafür nutzen sie das social center aktiv. Innerhalb des Dorfes existieren verschiedene Gruppenaktivitäten, die zu unterschiedlichen Anlässen oder in regelmäßigen Abständen veranstaltet werden. Dazu gehört zum Beispiel ein jährliches Pastaessen am Ende der Sommerferien, welches bei gutem Wetter auf dem Dorfplatz und bei schlechtem Wetter im Gemeinschaftshaus stattfindet. Daneben wird im November Sankt Martin mit einem gemeinsamen Gänsebratenessen gefeiert. An diesen größeren und lang etablierten Veranstaltungen nimmt die Mehrheit der BewohnerInnen teil. Zudem finden kleinere Aktivitäten in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen statt, wie beispielsweise Yoga- oder Tanzkurse und Chorproben im Gemeinschaftshaus. Eine Männergruppe geht im angrenzenden Wald Mountainbike fahren, eine andere Gruppe fährt einmal im Jahr zum Ski fahren in die Schweiz. Bei diesen und anderen Aktivitäten war es den BewohnerInnen wichtig festzustellen, dass die Teilnahme freiwillig ist (vgl. Interview 19.08.2017a; Interview 19.08.2017b; Interview 01.09.2017; Interview 18.09.2017; Interview 06.10.2017). Somit befinden sich die BewohnerInnen in einem kontinuierlichen Prozess des Austausches und man kann schlussfolgern, dass die genutzten Praktiken einen sozialen und gemeinschaftsstiftenden Charakter haben. Auf eine ökologische Komponente wird dabei nicht im besonderen Wert gelegt.
Es liegt nahe, dass die Wurzeln dieser freiwilligen Aktivitäten in den Anfängen des social centers zu finden sind. Bereits seit der Planungs- und Bauphase existiert eine gewisse Tradition, gemeinsame Aktivitäten durchzuführen. Bereits in dieser Phase wurde ein Grundstein für Solidarität und Sozialität gelegt, sodass das solidarische Verhalten nach der Insolvenz des Bauträgers erklärt werden kann. Ein weiterer Baustein war die Insolvenz als Ereignis. Dieses Element trägt ebenfalls zu dem guten Verhältnis innerhalb des social centers bei. Wie bereits im historische Kontext angesprochen, war nach der Insolvenz unklar, wie das weitere Vorgehen aussieht. Mit dem Entschluss, das Projekt in Eigenregie fortzuführen, war allen Beteiligten klar, dass dies nur mit einer Zusatzzahlung und viel Eigenleistung durchführbar sei. Eine Bauherrin (Interview 18.09.2017) der ersten Stunde bekräftigt dies mit ihren Erinnerungen:
Und dann mussten wirklich alle nochmal Kapital nachschießen, damit dann letztlich auch ein einheitlicher Preis pro Quadratmeter zustande kam. UND [Hervorhebung im Original] es musste ganz viel Eigenleistung gemacht werden. Und wir haben auch wirklich RICHTIG [Hervorhebung im Original] dann machen müssen. […] Also ich erinnere mich an das Dachdecken, wo wirklich die halbe Siedlung dann auf den Dächern stand. Mit so Holzschlägeln im Prinzip, um den Rollrasen dann auf dem Erdreich […] fest [zumachen]. Also es war ganz witzig. Das war wirklich richtig witzig. Hat viel Spaß gemacht. […] Dann wurde gemeinschaftlich gekocht. Also einer brachte Essen mit und [dann] saß man draußen. Hier in der Wüste. Und hat dann gemeinsam gegessen und gemeinsam gearbeitet. […] Also das. Das war schon eine sehr, sehr gute verbindende Zeit, die auch für ziemlich viel Solidarität gesorgt hat. Also insgesamt war das wirklich beinahe ein Musterbeispiel an Solidarität.
Diese Phase der engen Zusammenarbeit, unter Berücksichtigung der mehrmonatigen Bauverzögerung und der finanziellen Schwierigkeiten, beschreiben auch andere BauherrInnen von damals als eine sehr prägende und verbindende Zeit (Interview 21.08.2017a; Interview 11.09.2017). Die Tatsache, dass die EigentümerInnen von fertig gestellten Häusern bereit waren, sowohl die Zusatzleistung zu zahlen, als auch Eigenleistungen anzubringen ist an dieser Stelle zu betonen. Die Zusatzleistung war relevant, da somit der Kaufpreis pro Quadratmeter einheitlich blieb. In diesem Moment haben die BewohnerInnen (un-)bewusst ein Solidaritätsprinzip geschaffen, in dem die einzelnen Akteure mit der Unterstützung der Dorfgemeinschaft rechnen können.
Der Ersatz für die Insolvenz
Die verbindende Erfahrung der Solidarität, lässt sich nach Beendigung des Baus nun in den Aktivitäten wiederfinden. Die regelmäßigen Aktivitäten innerhalb des natürlichen Gefüges führen dazu, dass die Nachbarn eine enge Vertrauensbasis schaffen. Dies ist im Zuge der Urbanisierung und Verstädterung selten der Fall. Die Aussage, dass die Beziehungen „zum Teil richtig familiär sind“ unterstützt das Argument (Interview 11.09.207; Interview 18.09.2017). Dieser Punkt wird durch die Herausforderung des Generationswechsels und der folgenden Integration von neuen AnwohnerInnen unterstrichen. Aus unterschiedlichen Gründen haben circa 1/3 der Häuser ihre EigentümerInnen gewechselt. Die neuen EigentümerInnen haben die verbindende Phase der Planungs- und Bauzeit nicht durchlebt und „können nicht nachvollziehen, was […] [die Baufamilien] damals so zusammengeschweißt hat“ (Interview 18.09.2017). Aus diesem Grund müssen die neuen AnwohnerInnen erstmal aktiv integriert werden. Angesichts des engen Verhältnisses und der gemeinsamen Erfahrungen der AlteinwohnerInnen stellt sich dies schwieriger dar, als in konventionellen Wohnanlagen.
Ein vor einigen Jahren Zugezogener (Interview: 01.09.2017) beschreibt die sozialen und solidarischen Elemente in der Siedlung wie folgt:
Ja, es gibt eine Nachbarin, die einfach unheimlich gerne […] den Nachbarn bei der Gartenarbeit [hilft]. Die bietet sich an. Und diese Hilfe wird angenommen. Oder wir hatten einen Nachbarn [der] bis vor Kurzem einmal in der Woche zu Düsseldorfs besten Bäcker gegangen ist und Brot geholt hat. Der ist hier rumgedüst und jeder konnte dem eine Brotbestellung mitgeben und dann ist er hierhergekommen und hat das Brot ausgeteilt. […] Wir machen eine Öko-Bestellung [sic]. […] [W]ir können im Großhandel einkaufen und das macht ein älteres Ehepaar, die in Kauf nehmen, dass einmal im Monat oder alle zwei Monate […] um zwei Uhr nachts der große Laster [kommt] und […] denen die Paletten [hinschmeißt] […]. Und die machen sich eine unglaubliche Arbeit. DAS [Hervorhebung des Verfassers] ist einfach Engagement. Das ist einfach nur, weil die Leute Lust dazu haben. […] DAS [Hervorhebung des Verfassers] hätte ich vorher auch nicht gedacht bis ich hierhergekommen bin.
Die BewohnerInnen des Ökodorfes identifizieren sich mit dem solidarischen Grundgedanken, sodass Engagement untereinander eine Selbstverständlichkeit ist. Es wird aber auch von allen Seiten respektiert und akzeptiert, dass sich nicht alle gleichviel einbringen können und wollen (vgl. Interview 19.08.2017a).
Aus diesem präsenten, solidarischen Charakter innerhalb der Siedlung lässt sich schlussfolgern, dass die Basis der Siedlung zwar das ökologische Element ist, die Solidarität das Fortbestehen des gesellschaftlichen Zusammenhalts aber primär stärkt und sichert. Daher ist das solidarische Zusammenleben in unterschiedlichen Formen der entscheidende Punkt im social center. Dies bedeutet auch, dass die Siedlung anhand dessen eher eine präfigurative Politik im Hinblick auf Solidarität ist, als auf Ökologie. Die BewohnerInnen leben anhand eines starken Solidaritätsprinzips in dem Dorf und haben somit innerhalb dessen eine Utopie geschaffen. Die Utopie wird durch die Handlungsalternativen sowohl aufrechterhalten als auch gestärkt.
Formale und informale Regeln – Eine Analyse des dritten sozialen Prozesses
In einem weiteren sozialen Prozess der präfigurativen Politik, entstehen nach Yates kollektive soziale Normen und Verhaltensweisen, welche sich im Laufe der Zeit durch die vorherigen beiden sozialen Prozesse – den experimentellen Praktiken und den alternativen politischen Perspektiven etablieren. Sie gelten lediglich für das social center und führen zu Routinen im Verhalten. Laut Yates werden manche Verhaltensweisen auch gemeinsam in Versammlungen und Debatten diskutiert und beschlossen. Diese Vereinbarungen erfordern ein hohes Einvernehmen bzw. eine hohe Übereinkunft unter den Beteiligten (vgl. Yates 2015: 14).
„Spielregeln […], an die wir uns halten wollen“
Bei der ökologischen Siedlung handelt es sich um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). 1994 entstand unter den EigentümerInnen ein Gemeinschaftsvertrag, der für die gesamten BewohnerInnen der Siedlung gilt. In diesem sind die ökologischen Vorsätze der Siedlung festgeschrieben (welche bereits in der Entstehungsgeschichte erwähnt wurden) und allgemeine Regeln verankert, inwiefern die eigenen Häuser aber auch die gemeinsamen Besitztümer und Grundstücksflächen genutzt bzw. verändert werden dürfen und wie nicht. Überdies ist in ihm niedergeschrieben, welche Sachverhalte mit welchem Mehrheitsverhältnis entschieden werden können (vgl. Interview 19.08.2017a). Allgemein soll der Gemeinschaftsvertrag bei Konflikten Hilfestellung leisten und diese auch vorbeugen (vgl. Interview 28.08.2017a). Eine Bewohnerin beschreibt den Gemeinschaftsvertrag auch als „Spielregeln […], an die wir uns halten wollen“ (Interview 19.08.2017a). Alle BewohnerInnen mussten ihn unterzeichnen. Auch die Zustimmung von Neuankömmlingen ist eine zwingende Voraussetzung für den Einzug in die Siedlung, d. h. beim Verkauf eines Hauses sind VerkäuferInnen und KäuferInnen an den Gemeinschaftsvertrag gebunden (vgl. Interview 28.08.2017a).
Zu den im Gemeinschaftsvertrag gemeinsam verwalteten Anlagen zählen ein Gemeinschaftshaus, zwei Heizungsanlagen, eine Holzwerkstatt, Wohnwege, Stellplätze, Garagen, Müllraum und Solaranlagen (vgl. Bauunterlagen eines Bewohners zu der ökologischen Siedlung). Bei dem Gemeinschaftshaus haben sich die BewohnerInnen beispielsweise darauf geeinigt, dass es nur privat für Veranstaltungen genutzt werden darf, d. h. es wird nicht öffentlich vermietet, sondern ausschließlich die BewohnerInnen aus der Siedlung dürfen dort Veranstaltungen anbieten. Um diese untereinander zu koordinieren, hängt im Gemeinschaftshaus ein Kalender, in welchem die BewohnerInnen ihr Vorhaben eintragen können. Bei Überschneidungen wird per Kommunikation abgestimmt und beschlossen wer oder welche Veranstaltung Vorrang hat (vgl. Interview 19.08.2017a). Des Weiteren befindet sich in der Siedlung eine Holzwerkstatt mit selbstorganisiertem Werkzeug und Maschinen, die für jede BewohnerIn zugänglich ist (vgl. Interview 11.09.2017). Diesbezüglich existieren auch sogenannte „technische Patenschaften“ (Interview 21.08.2017b), bei denen die BewohnerInnen, die Ahnung von der Handhabung der Maschinen haben, anderen Hilfestellung leisten (vgl. Interview 21.08.2017b). Zweimal im Jahr gibt es zudem den sogenannten „Grünschnitttag“, an welchem die BewohnerInnen, alle zusammen, die gemeinschaftlichen Grünflächen stutzen und pflegen. Dieser ist laut dem Gemeinschaftsvertrag für alle verpflichtend (vgl. Interview 19.08.2017a). Was allgemein den Erhalt der Gemeinschaftsanlagen betrifft, tragen lediglich die EigentümerInnen die Verantwortung. MieterInnen seien davon ausgeschlossen (vgl. Interview 01.09.2017), d.h., wenn etwas von den gemeinschaftlichen Besitztümern kaputtgeht oder repariert werden muss, wird dies aus den gemeinsamen Rücklagen, von einem Gemeinschaftskonto der EigentümerInnen bezahlt (vgl. Interview 11.09.2017).
Darüber hinaus, werden jedes Jahr im Wechsel, von Haus zu Haus, zwei BewohnerInnen der Siedlung zur GeschäftsführerIn bzw. BürgermeisterIn der GbR ernannt (vgl. Interview 11.09.2017), die sich um gemeinschaftliche Sachverhalte wie z.B. die Finanzierung von gemeinsamen Besitztümern, gemeinsame Rücklagen und Gemeinschaftskonten, Reparaturen und Konflikte kümmern. Sie seien mit einer HausverwalterIn einer Eigentümergemeinschaft zu vergleichen (vgl. Interview 19.08.2017) und spielen eine wichtige Rolle für die Siedlung, denn „Gemeinschaft bedarf aktiver Betreuung und Pflege“ (vgl. Interview 11.09.2017). Es finden zweimal jährlich mit den BürgermeisterInnen Dorfversammlungen statt, in welchem Konflikte und neue Angelegenheiten im Plenum geklärt oder auch beschlossen werden (vgl. Interview 06.10.2017). Um eine neue Idee in der Siedlung umzusetzen, müssen alle BewohnerInnen der Siedlung zustimmen, d. h., wenn eine NachbarIn gegen eine Sache stimmt, wird diese nichtig (vgl. Interview 01.09.2017). Beispielsweise wurde einmal der Vorschlag gemacht, Ladestationen für mögliche Elektroautos zu schaffen. Allerdings wären dadurch andere Autostellplätze weggefallen, wodurch die Idee abgelehnt und auch nicht durchgesetzt wurde (vgl. Interview 06.10.2017).
Durch diese Vereinbarungen kann in dem ökologischen Dorf nach Theodore R. Schatzki von einer sozialen Ordnung gesprochen werden, denn er beschreibt sie als Übereinkünfte oder Regelungen zwischen Menschen, die ihnen das gemeinsame Interagieren erlauben (vgl. Schatzki 2001: 51). Sie bildet sich aus den vorherigen Experimenten bzw. Praktiken und Ideen des social centers heraus (vgl. Schatzki 2001: 50).
„Das ist mehr als einfach Nachbarschaften“
Seit dem Beziehen der Siedlung 1988/89 haben sich zudem einige nicht schriftlich festgehaltene Normen herausgebildet, die die BewohnerInnen in ihrem Verhalten beeinflussen. Das Verhalten wird allerdings nicht im ökologischen Sinne beeinflusst, so dass sich Nachhaltigkeit im Handeln wiederspiegelt. Das lässt sich daran feststellen, dass kein ökologisches Verhalten von den BewohnerInnen abverlangt wird (vgl. Interview 21.08.2017b). In der Siedlung leben Personen, die aus schlechtem Gewissen durch einen Flug in den Urlaub eine Ausgleichsspende tätigen bis zu welchen, die große und CO2-lastige Autos fahren (vgl. Interview 18.09.2017). Jeder kann so leben, wie es ihm beliebt. Bezüglich der Lebensstile, gibt es keinerlei Vorschriften (vgl. Interview 21.08.2017b).
Die Normen wirken sich eher auf das soziale Miteinander im Dorf aus. Die BewohnerInnen legen viel Wert auf die Gemeinschaft und auf Nachbarschaftshilfe. Kleinere Aushilfstätigkeiten wie z.B. Fische füttern, Pflanzen gießen, wenn andere im Urlaub sind oder die gegenseitige Hilfe bei der Instandsetzung der Häuser werden größtenteils als selbstverständlich angesehen (vgl. Interview 21.08.2017b; Interview 28.08.2017; Interview 11.09.2017). Dabei werden auch Generationsunterschiede berücksichtigt, z.B. helfen die vom Alter her jüngeren BewohnerInnen den Älteren beim Tragen der Einkäufe oder bei der Restauration der Häuser, wohingegen die älteren BewohnerInnen beispielsweise von Zeit zu Zeit auf die Kinder der Jüngeren aufpassen (vgl. Interview 01.09.2017). Die Nachbarschaft dient somit auch als eine Art Bewachungssystem untereinander und ist gekennzeichnet durch „[…] eine hohe Vertrautheit […], ein gutes Miteinander“ und wird als „zugewandt und den anderen achtend, respektvoll“, wie auch als sehr hilfsbereit beschrieben (Interview 28.08.2017; Interview 21.08.2017a). Die gemeinsamen Aktivitäten, die im Prozess zuvor beschrieben wurden, bestärken zudem das Nachbarschaftsverhältnis. Ein Interviewter sagt dazu:
„Das ist mehr als einfach Nachbarschaften“ (Interview 11.09.2017).
Was die Integration von neuen EinwohnerInnen betrifft, bestehen jedoch Bedenken, den Gemeinschaftsgedanken in der Siedlung zu verlieren:
[…] es ist ein bisschen schwierig den neu Hinzukommenden (…) zu vermitteln, dass wir keine Eigentümergemeinschaft sind, sondern, dass wir hier ANDERS [Hervorhebung im Original] das machen wollen. (Interview 21.08.2017)
Auch einer der derzeitigen Bürgermeister sieht das Verkaufen und Vermieten der Häuser als eine Herausforderung: „Die Siedlung funktioniert nur mit Eigentümern, die sich engagieren“ (Interview 01.09.2017). Sowohl die Häuser als auch die Gemeinschaft seien pflegebedürftig: „Es ist nicht einfach Idylle pur, sondern man muss auch was dafür tun“ (Interview 18.09.2017). Zum einen, um die Gesamtattraktivität der Siedlung beizubehalten, aber auch, um gemeinsame Entscheidungen treffen zu können (vgl. Interview 19.08.2017; Interview 01.09.2017). Das könne vor allem durch neue MieterInnen problematisch werden, weil diese laut Vertrag nicht für den Erhalt gemeinsamer Anlagen aufkommen müssen (vgl. Interview 01.09.2017). Einer der grundlegenden Probleme der Integration sei, dass die neuen BezieherInnen sich aufgrund der gemeinsamen Entstehungsgeschichte der bereits Anwohnenden nicht zugehörig fühlen und somit zwischen den „Alten“ und den „Jungen“ unterschieden wird. In dieser Hinsicht, laut einem Bewohner, müssen die „Alten“ Integrationsarbeit leisten:
„Nicht im Sinne von, dass wir hingehen, du musst jetzt hier in alle Vereine eintreten, sondern dass wir das Gefühl vermitteln, ihr seid willkommen“ (Interview 11.09.2017).
Mit Bezug auf Yates lassen sich durchaus Parallelen aufzeigen. In der Siedlung haben sich gewisse Normen und Verhaltensmuster herauskristallisiert. Diese gelten auch nur für die Bewohner der Siedlung, bauen jedoch auf keinem ökologischen Engagement auf, sondern basieren mehr auf der Gemeinschaft und dem Zusammenleben untereinander. Die kollektiven Verhaltenscodes entstehen durch die soziale Praxis, aber auch durch Regelwerke wie z.B. die Vertretungsorgane oder den Gemeinschaftsvertrag. Dadurch werden gewisse Routinen im Verhalten erzeugt wie z.B. die erlaubte Nutzung der Gemeinschaftsanlagen oder der „Grünschnittag“. Weiterhin lassen sich Ähnlichkeiten im Entstehungsprozess der Richtlinien bzw. Regeln festmachen. Neue Sachverhalte oder Auseinandersetzungen werden in Versammlungen diskutiert und erfordern einen hohen Konsens.
Der gestaltete Lebensraum und seine Auswirkungen auf das social center – Eine Analyse des vierten sozialen Prozesses
Im vierten sozialen Prozess von Yates geht es darum, die aus den vorherigen Prozessen entstandenen experimentellen Ursprünge, die politischen Botschaften bzw. die Ideologie und die kollektiven Normen und routinierten Verhaltensweisen in ein materielles Umfeld und in einer sozialen Ordnung zu festigen. Im genaueren meint es: Den physischen Lebensraum gemäß seinen Überzeugungen zu gestalten und danach zu leben (vgl. Yates 2015: 14). Ein gutes aber überspitztes Beispiel hierfür sind z.B. Personen, die ideologisch gegen die Umweltverschmutzung durch CO²-Ausstoß sind und dementsprechend komplett auf das Fliegen oder andere CO² ausstoßende Verkehrsmittel verzichten und nur saisonale, vegetarische Produkte aus der Region kaufen oder sich evtl. sogar selbst im Garten oder auf einem Feld, Gemüse und Obst pflanzen, um sich autark zu ernähren.
Eine andere Welt
Das Ökodorf liegt im materiellen Umfeld eher dezentral und ist von Grün umgeben. Ein Wald und ein See befinden sich unmittelbar vor Ort (vgl. Interview 19.08.2017b). Generell wird die Lage und die Siedlung von den BewohnerInnen sehr geschätzt:
„Wir haben hier einfach unheimliches Glück, also mit der Lage […], weil wir sehr nah an dem Wald dran liegen und nicht so direkt in der Verkehrsader […]“ (Interview 19.08.2017a).
„Der Vorteil ist mein ich, dass man eigentlich hier nah an der Stadt sehr ländlich wohnt“ (Interview 21.08.2017b). „Man kommt […] die Straße hoch, sucht sich einen Parkplatz und landet in einer anderen Welt und das finde ich sehr toll“ (Interview 18.09.2017). Lediglich die Verkehrsanbindung wird kritisiert:
„Der kleine Nachteil ist, wenn sie hier wohnen so die Anbindung […], ist sag ich mal zweitklassig. Es gibt keine Straßenbahn, es gibt nur Busse […]“ (Interview 06.10.2017).
„Die öffentlichen Verkehrsmittel könnten […] DEFINITIV [Hervorhebung im Original] […] besser sein. Nicht, dass man nichts hätte aber die Frequenz ist einfach definitiv zu niedrig“ (Interview 19.08.2017a).
Für mehrere BewohnerInnen geht die Verkehrsanbindung mit schlechten Einkaufsmöglichkeiten einher, was auch die Bedeutung der „Ökobestellung“ unterstreicht (vgl. Interview 28.08.2017).
Gebaut wurde das Ökodorf nach ökologischen Richtlinien, diese wurden jedoch von den Architekten bestimmt. Es gab drei Häuservariationen aus denen ausgewählt werden konnte mit klaren baulichen Vorgaben (vgl. Interview 28.08.2017). Die Architekten haben auf einen gewissen Grad an Einheitlichkeit geachtet, weshalb beispielsweise die Wintergärten zur vorderen Seite, bestimmte Sprossenfenster, ein Verbot einer Satellitenschüssel auf dem Hausdach (vgl. Interview 28.08.2017), kleine und privat gehaltene Gärten (vgl. Interview 11.09.2017), gleiche Türen, Holz und Dämmwolle vorausgesetzt wurden (vgl. Interview 01.09.2017). Beim Bauen wurde ebenfalls auf Keller und Dachböden verzichtet, weshalb sich ein paar wenige BewohnerInnen, die darauf nicht verzichten wollten, selbst um einen Anbau gekümmert haben (vgl. Interview 19.08.2017b). Die Innenräume seien jedoch alle individuell gestaltet (vgl. Interview 18.09.2017).
Die ökologischen Häuser haben laut den BewohnerInnen einen sehr hohen Pflegebedarf. Sie müssen aufgrund des Holzes regelmäßig gestrichen werden. Ab und zu müssen auch die Bretter ausgetauscht, die Fenster erneuert und die Grasdächer ausgewechselt werden (vgl. Interview 21.08.2017b). Hinzu kommt das Säubern von Drainagen um den Wasserabfluss zu gewährleisten und die eigene Gartenarbeit, die zusätzlich zu der Instandhaltung von den gemeinschaftlichen Grünflächen anfällt (vgl. Interview 11.09.2017; Interview 18.09.2017a). Eine Herausforderung, die die BewohnerInnen diesbezüglich sehen ist das Älterwerden (vgl. Interview 28.08.2017). Dadurch, dass die Häuser sehr pflegeintensiv sind, sei es mit zunehmenden Alter für die BewohnerInnen schwierig, diese eigenständig zu restaurieren. Des Weiteren werden die baulichen Gegebenheiten für das hohe Alter als kritisch betrachtet wie z.B. Treppen anstatt Fahrstühle oder Pflastersteine, welche nicht Rollator-geeignet sind. Dies könne dazu führen, dass die BewohnerInnen gegen ihren Willen aus ihren Häusern ausziehen müssten (vgl. Interview 28.08.2017).
Insgesamt sei die Siedlung sehr dicht im Gegensatz zu anderen konventionellen Wohnsiedlungen gebaut worden, wodurch Stellplätze für Autos vor den Haustüren keinen Platz finden. Diesbezüglich wird sich z.B. für Einkäufe oder Möbel mit Karren oder anderen Hilfsmitteln ausgeholfen (vgl. Interview 21.08.2017a). Diese Dichte wirkt sich auch auf das Zusammenleben aus. Eine Bewohnerin sagt: „Ich lerne auch jeden Tag viel, auch wie ich mit anderen Meinungen umgehen kann, weil wir einfach hier hautnah wohnen“ (Interview 28.08.2017b). Ein anderer Anwohner ist der Ansicht:
„Das sind dann Nachbarschaftsverhältnisse die vielleicht gefördert werden durch die Art der Bauweise und durch das was man gemeinsam entscheiden muss […]“ (Interview 21.08.2017b).
Daraus lässt sich schließen, dass das gemeinschaftliche Leben und die sozialen Aktivitäten des Dorfes, durch die kompakte bzw. enge Bauweise gefördert werden. Durch die gemeinsamen Entscheidungen und Abstimmungsverhältnisse, seien die BewohnerInnen zudem aufeinander angewiesen. Diese Abhängigkeit mache sie rücksichtsvoller und bringe sie dazu, mehr aufeinander einzugehen (vgl. Interview 01.09.2017).
Ein gelungener Mittelweg
Die Architekten haben bei dem Bau jedoch auch auf Freiräume geachtet. Sie haben einen privaten, einen halb öffentlichen und einen öffentlichen Raum in der Siedlung geschaffen. Der blickdichte Garten und das Haus stellen den privaten Raum dar. Den halböffentlichen Raum macht ein kleiner Vorhof vor der Haustür aus und der öffentliche Raum besteht aus den Gemeinschaftsanlagen, Wohnwegen etc.. Diese verschiedenen Aufenthaltsorte bieten den BewohnerInnen die Möglichkeit der Privatsphäre aber auch der Kontaktaufnahme. Eine Bewohnerin beschreibt deswegen das Leben in der ökologischen Siedlung als einen gelungenen Mittelweg zwischen zwei Extremen: Dem Leben auf dem Land und dem Leben in der Stadt. Auf dem Land dominiere eine zu hohe Überwachung untereinander, womit gemeint ist, dass jeder über jeden alles weiß und dies auch ziemlich schwer zu verhindern ist. In einer Mietwohnung in der Stadt jedoch sei es genau umgekehrt. Es bestehe eher ein flüchtiges Nachbarschaftsverhältnis, so dass es keiner bemerken würde, falls einem etwas passiert oder jemand Hilfe benötigt (vgl. Interview 21.08.2017a). Eine andere Bewohnerin sieht das Leben in der ökologischen Siedlung als Erholung:
„Selbst wenn man aus dem Urlaub kommt, kommt man wieder in den Urlaub zurück“ (Interview 19.08.2017).
Das sehen zum Teil auch Außenstehende so, denn bezüglich des Lebens im Ökodorf, haben die BewohnerInnen einige Reaktionen von außerhalb bekommen, darunter positive aber auch negative.
„Leben und leben lassen“
Zu den positiven Rückmeldungen zählt zum einen der Neid, der mit folgenden Kommentaren geäußert wurde: „Man, du wohnst wie im Urlaub“, „das ist so ein kleines Paradies, so eine Oase in der Stadt“ (Interview 28.08.2017). „Das hat […] irgendwie so einen Ferienhaus-Charakter“ (Interview 01.09.2017). „Euer Haus ist und bleibt für mich das schönste Haus, was ich je gesehen habe“ (Interview 18.09.2017). Zum anderen machte sich laut den Befragten auch positives Erstaunen bemerkbar, weil sich manche einem so grünen Ort in einer Großstadt nicht bewusst waren (vgl. Interview 06.10.2017). Viele Außenstehende wie Familie, Freunde, Bekannte oder auch fremde Personen zeigen nach Aussagen auch Neugier bezüglich der Bauform und des Lebens dort (vgl. Interview 01.09.2017).
Die negativen Reaktionen bestehen zum Teil aus Vorwürfen von Familie und Bekannten, z.B. welch eine Last die BewohnerInnen sich angetan hätten, da die Häuser aufgrund des Holzes sehr viel Pflege abverlangen (vgl. Interview 28.08.2017). Auch mit fremden Spott, wie „grüne Spinner“ oder „diese Öko-Vereinigung“ und anderen alten Vorurteilen aus Hippiezeiten wurden die BewohnerInnen konfrontiert (vgl. Interview 01.09.2017; Interview 18.09.2017).
Eine Bewohnerin erzählt:
Wir sind schon hier irgendwie die Ökos, […] die Grasdachsiedlung“ […] man wird schon so als Gruppe betrachtet“ (Interview 19.08.2017).
Außerdem bekam sie Kommentare wie: „Ist doch eine super Wiese hier. Ihr habt uns quasi dieser Wiese beraubt“ (Interview 19.08.2017). Ein Bewohner berichtet, dass zu Beginn, der Bau des Ökodorfes in einem anderen Stadtteil vorgesehen war. In diesem wurde jedoch gegen das Bauprojekt gestimmt, weshalb weiter nach einem Standort für die Siedlung gesucht werden musste. Der Grund dafür sei gewesen:
„Weil sie Angst vor Öko-Fanatikern […] hatten. Man hat sich also gegen DIESE [Hervorhebung im Original] Wilden ausgesprochen, die hier irgendwie so eine Kommune vorhaben zu bauen“ (Interview 01.09.2017).
Die BewohnerInnen der ökologischen Siedlung gehen mit den Reaktionen jedoch gelassen um. Sie lassen sich von den Meinungen anderer nicht in ihrem Handeln beeinflussen und leben nach dem Motto „Leben und leben lassen“ (Interview 28.08.2017). Es wird jede andere Ansicht akzeptiert und toleriert. Ein Bewohner sagt:
„Ich bin nicht der Meinung, dass dies das allein Seligmachende für alle ist, es ist es aber für uns“ (Interview 11.09.2017).
Zu diesem Prozess der präfigurativen Politik lässt sich schlussfolgern, dass die Siedlung als Fallbeispiel nicht ganz auf diesen zutrifft. Wie schon erläutert wurde, hatten die BewohnerInnen andere Beweggründe dort hinzuziehen und gehen auch keinem bewussten Engagement nach. Dementsprechend versuchen sie es auch nicht in irgendeiner Form im materiellen Umfeld zu festigen. Hinzu kommt, dass die Siedlung fremdbestimmt konzipiert und auch gebaut wurde. Das einzige was sich durch die Einbettung in das materielle Umfeld sagen lässt, ist das durch das flächensparende Bauen das soziale Miteinander in der Nachbarschaft gefördert wird, manche Alltagsaufgaben anders bewältigt werden müssen (z.B. Einkäufe) und dass die Lage des Ökodorfes sowohl Vorzüge (z.B. Wald) als auch Schwierigkeiten mit sich bringt (z.B. Mobilität). Reaktionen von Außenstehenden haben keinen Einfluss auf die Lebensführung der BewohnerInnen.
Die Übermittlung von Botschaften – Eine Analyse des fünften sozialen Prozesses
Bei dem fünften sozialen Prozess der präfigurativen Politik von Yates, geht es um die Demonstration und Verbreitung von Praktiken, Ordnungen und auch Ansichten. Damit ist gemeint, dass das social center, welches präfigurative Politik ausübt, den Wunsch hat mehr Menschen für ihre Denk- und Handlungsweisen zu gewinnen. Dies soll nach Yates durch verschiedene öffentliche wie auch private Veranstaltungen gelingen. Unter öffentlichen Veranstaltungen fallen beispielsweise Seminare, Workshops, Konferenzen oder auch öffentliche Proteste und Demonstrationen. Die öffentlichen Protestaktionen vermitteln jedoch eher Botschaften und zeigen alternatives Handeln auf, als das sie wirklich vertiefende Infos zu den alternativen Praktiken überliefern. Zusätzlich werden im öffentlichen Raum auch Medien zur Verbreitung der Ansichten und Praktiken genutzt. Im privaten Raum hingegen, sind es eher informelle Gespräche mit Fremden oder Bekannten, die zur Übertragung der Einstellungen auf die breite Masse beitragen (vgl. Yates 2015: 14).
„[…] das muss jeder für sich entscheiden […]“
Bei den Interviewten, lassen sich beide Formen, sowohl die öffentliche als auch die private Form der Verbreitung der ökologischen Wohnkultur feststellen. Die BewohnerInnen der ökologischen Siedlung repräsentieren ihre Lebensart zum Teil nach außen durch von der Stadt organisierte Veranstaltungen, bei welchen Sie anhand einer PowerPoint-Präsentation speziell ihr Wohnprojekt vorstellen. Des Weiteren stehen sie für Universitätsprojekte wie z.B. dieses, gerne zur Verfügung und waren auch schon in der Vergangenheit den lokalen Medien gegenüber aufgeschlossen (vgl. Interview 11.09.2017). Dies machen sie auch aus Überzeugung:
„Wir machen schon […] in solchen Sachen Werbung, weil wir auch davon überzeugt sind, dass es gut ist“ (Interview 11.09.2017).
Demonstrationen und Proteste werden jedoch nicht praktiziert.
Was die private Verbreitungsform betrifft, wird es individueller gehandhabt. Wenn Privatleute vorbeikommen und sich für ökologisches Wohnen interessieren, geben die Befragten gerne Auskunft über ihr Wohnprojekt, jedoch nicht im missionarischen Sinne um andere davon zu überzeugen. (vgl. Interview 21.08.2017a). Sie sehen in sich keine direkte Vorbildfunktion und wollen auch niemanden unbedingt dazu bringen so zu leben:
„[…] ich würde jetzt nicht versuchen andere Leute da zu überreden, hey mach doch mit und so“ (Interview 06.10.2017).
„Also ich fühle mich nicht berufen, dass jetzt irgendwie nach außen zu tragen und das andere das jetzt auch so machen müssen […] habe da kein Sendungsbewusstsein in dem Sinne“ (Interview 19.08.2017a).
„Also das muss jeder für sich entscheiden, wir wollen keine Oberlehrer sein […]“. „Also wir gehen damit jetzt nicht hausieren“ (Interview 19.08.2017b).
Die Verbreitungsformen, sowohl die öffentliche als auch die private, basieren somit nicht auf einem bewussten Engagement. Die Befragten versuchen zwar gewisse Werte an ihre Kinder weiterzugeben, haben jedoch nicht den Drang diese Werte auf die breite Masse zu übertragen (vgl. Interview 28.08.2017). Ein Bewohner erwähnt außerdem, das umweltbewusstes Handeln ganz verschieden umgesetzt werden kann und somit nicht nur ökologisches Wohnen dazu beiträgt. Zudem sei die ökologische Siedlung zwar nachhaltiger als andere Wohnkulturen aber dennoch ausbaufähig (vgl. Interview 11.09.2017).
Eine schöne Art zu leben
Auf die Frage ob das Ökodorf bzw. das nachhaltige Wohnen Teil einer breiteren Bewegung werden könne, antworteten alle Interviewten mit „nein“:
„Das glaube ich eher nicht, dass das für die Masse möglich ist“ (Interview 19.08.2017a). „Glaub ich nicht. Das sind Nischen“ (Interview 28.08.2017).
„Schwierig […] also ich glaube Sie würden immer wieder welche finden, wenn Sie sowas anbieten, das denke ich schon. […] Aber die breite Masse, das denke ich eher nicht“ (Interview 06.10.2017).
Gründe dafür seien unter anderem die fehlende Verbreitung des ökologischen Bewusstseins oder auch die Finanzierung:
„Es muss man sich auch irgendwo leisten können“ (Interview 18.09.2017).
Jedoch wird auch der Immobilienmarkt kritisiert:
„Selbst wenn Menschen sich das wünschen würden. […] Es gibt halt fast kein Angebot“ (Interview 01.09.2017).
Ein anderer Grund sei, dass selbst wenn ein Angebot auf dem Wohnungsmarkt existiere, dass eher alleinstehende Häuser bevorzugt werden, bei denen ein räumlicher Abstand zu den Nachbarn gewährleistet wird. Damit ist gemeint, dass das dichte Zusammenleben nicht unbedingt von der breiten Masse gewollt sei (vgl. Interview 11.09.2017). Dennoch wünschen sich manche BewohnerInnen eine weitere Verbreitung von ökologischen Dörfern. Sie sehen es als eine schöne Art zu leben an (vgl. Interview 21.08.2017a) und auch als eine verantwortungsbewusste Lebensweise:
„Es ist einfach auch ein Stückchen achten auf die Umwelt und achten auf den Nächsten“ (Interview 21.08.2017a).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Fallbeispiel nicht ganz auf den fünften sozialen Prozess der präfigurativen Politik nach Yates zutrifft. Die BewohnerInnen der ökologischen Siedlung vertreten Ihre Lebensweise zwar sowohl durch öffentliche als auch durch private Verbreitungsformen gerne nach außen, allerdings nur, wenn dies auch gewollt ist. Sie versuchen nicht andere Leute von dieser Lebensart zu überzeugen und neue Verbündete zu erlangen.
Handlungsempfehlung
Die BewohnerInnen der ökologischen Siedlung haben mehrere Handlungsempfehlungen genannt, die eine Verbreitung von ökologisches Wohnen unterstützen könnten. Zum einen sollten die lokalen Kommunen einem solchen Bauvorhaben eine größere Aufmerksamkeit schenken, da ein angemessenes Angebot an Immobilien fehlt, dass die Verbreitung von ökologischem Wohnen unterstützen könnte. Zum anderen ist diese Bauweise sehr kosten- und pflegeintensiv, weshalb diese Projekte auch mehr vom Staat gefördert werden müssten (vgl. Interview 01.09.2017). Ferner muss darauf geachtet werden, dass die Bauweise, aufgrund des späteren sehr engen Zusammenlebens, gut geplant ist. Jedoch sollten Menschen, die sich für so eine Wohnform entscheiden, auch eine hohe Sozialkompetenz aufweisen (vgl. Interview 21.08.2017a).
Fazit
Die präfigurative Politik stellt eine Form des Engagements dar, bei der ein social center versucht, die gewünschte Zukunft in die Gegenwart zu verlagern. Es werden Überzeugungen durch die Praxis gefestigt, um einen Wandel der Gesellschaft herbeizuführen; ganz nach dem Sinne „der Weg ist das Ziel“.
Die fünf theoriegeleiteten Annahmen des Konzepts konnten in dem Fallbeispiel nur teilweise wiedergefunden werden. Etwa ließ sich feststellen, dass sich die Mehrheit der BewohnerInnen nicht aufgrund von ökologischen Beweggründen für dieses Projekt entschied, sondern auch Aspekte wie Lage (man erinnere an die naheliegende Waldorfschule) oder schlichtweg Kostengründe einflussreich waren. Aus diesem Grund war auch die erwartete ideologische Haltung gegen die Umweltschädigung durch die gängige Wohnkultur nicht flächendeckend in der Siedlung vertreten. Generell überwiegt in der Siedlung eine soziale/solidarische Ideologie anstatt einer ökologischen. Dementsprechend haben sich nicht ökologische, sondern eher soziale/solidarische Praktiken durchgesetzt, worauf aufbauend, sich bestimmte Normen und Verhaltensweisen in der Siedlung entwickelt haben. Manche davon wurden auch als feste Regel in einem Gemeinschaftsvertrag festgehalten, um das Zusammenleben zu organisieren und die Gemeinschaft zusätzlich zu stärken. Darüber hinaus, wird auch durch die dichte Baustruktur das soziale Miteinander gefördert.
In der Lebensweise der BewohnerInnen gibt es einige Parallelen zur präfigurativen Politik. Etwa war die Bauweise der Siedlung mit ihren Grasdächern für die damalige Zeit durchaus experimentell. Ebenso die von den Bewohnerinnen und Bewohnern eingeführte Institution der rotierenden BürgermeisterInnen, wie auch Versammlungen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung nähern sich dem Konzept der präfigurativen Politik an, allerdings fehlt die gemeinsame Ideologie in der Siedlung und der missionarische Verbreitungsgedanke des ökologischen Wohnens. Die BewohnerInnen der Siedlung gehen allgemein keinem bewussten Engagement nach. Sie haben nicht zum Ziel, eine ökologisch basierte Ideologie und eine nachhaltige Lebensweise nach außen zu tragen, um für ein umweltfreundlicheres Leben zu plädieren.
Aus diesem Grund kommt es zu der Schlussfolgerung, dass die Siedlung kein Lehrbuchspiel einer präfigurativen Politik darstellt, sondern einen solidarisch motivierten Typus widerspiegelt. Dieser ist durch eine starke Vertrauensbasis zwischen den Nachbarn wie auch durch eine hohe Nachbarschaftshilfe gekennzeichnet und wird durch unterschiedliche Alltagspraktiken gefestigt und gestärkt. Allerdings lässt sich sagen, dass auch wenn die Bewohner keinem bewussten Engagement nachgehen, trotzdem von einer Form Engagement gesprochen werden kann, denn sowohl die Entscheidung für den nachhaltigen Bau als auch das soziale Verhalten der Bewohner untereinander haben Engagement-Charakter.
Abschließend lohnt sich ein kritischer Blick auf das Konzept der präfigurativen Politik, denn es stellt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich ein Wohnprojekt als präfigurativ zu bezeichnen? Präfigurative Politik hat das Ziel die Zukunft in die Gegenwart zu verlagern. Doch wo fängt Präfiguration an und wo hört sie auf? Das Handeln und Verhalten von Menschen wird durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst. Beispielsweise ist die Entscheidung für oder gegen den Erwerb einer Immobilie, in der Regel, einer der größten die innerhalb des Lebens getroffen wird und hängt von vielen unterschiedlichen Aspekten ab (z. B. Kosten, Lage, soziale Gründe etc.). Daher lässt sich der Kauf oder Bau eines Hauses nicht ausschließlich auf ökologische Beweggründe reduzieren. Hinzu kommt, dass sich präfiguratives Handeln schlecht von habitualisiertem Handeln, dem sogenannten Alltagshandeln unterscheiden lässt. Die Grenzen sind uneindeutig, so dass, präfigurative Praktiken zu habitualisierten Praktiken werden können. Beispielsweise, kann ökologisches Gärtnern sowohl präfigurativ motiviert sein, jedoch kann es auch nur ein Hobby bzw. irgendwann nur noch zur Gewohnheit werden ohne damit etwas zu bezwecken. Somit ist es auch mithilfe der beschriebenen fünf sozialen Prozesse problematisch, in der ökologischen Siedlung eine eindeutige Grenze zwischen sozial gewachsenem, nachbarschaftlichem Zusammenhalt und präfigurativ motiviertem Handeln zu ziehen. Insbesondere, da ein gewisses Maß an gegenseitiger Rücksicht und Zusammenarbeit eine Voraussetzung für jede gut funktionierende Nachbarschaft ist. Dies kann nicht automatisch mit einer Form von Engagement gleichgesetzt werden und somit lässt sich auch ein Wohnprojekt nicht vollends als präfigurativ bezeichnen.
Ein Beitrag von Glory Gay, Michelle Leine und Maximilian Winter
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