Dieser Blogpost soll dazu dienen, auf dem verlinkten Video aufbauend die Phänomene zu diskutieren, die speziell mit dem ehrenamtlichen Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationserfahrung in der Geflüchtetenhilfe zusammenhängen. Konkret soll die Frage beantwortet werden, inwieweit Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich im Bereich der Geflüchtetenhilfe engagieren, Parallelen zu den Besonderheiten des Engagements von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in anderen Bereichen der Zivilgesellschaft engagieren, aufweisen. Selbstverständlich kann eine Minifallstudie wie jene, die Inhalt des oben stehenden Videos ist, nicht die gleiche Repräsentativität und Aussagekraft besitzen, wie eine großangelegte Untersuchung wie etwa der deutsche Freiwilligensurvey, der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt wurde. Es muss daher angenommen werden, dass die Tendenzen, die in diesem Blogeintrag nachgezeichnet werden, nur einen sehr selektiven Ausschnitt der Realität abbilden.
Über die Relevanz des Themas kann schwerlich diskutiert werden. Die Hunderttausenden von Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind und die Frage, wie sich ihre Aufnahme und Integration am besten organisieren und erleichtern lassen, bestimmen einen Diskurs, der auch heute, im Jahre 2018, nach wie vor kontrovers geführt wird und im öffentlichen Bewusstsein einen großen Raum einnimmt. Die Bereitschaft, sich ehrenamtlich zugunsten der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge zu engagieren, war 2015 um ein Vielfaches größer, als bei der Aufnahme der Menschen, die Anfang der 1990er Jahre aus dem zerfallenden Jugoslawien nach Deutschland geflohen waren. Im Gegensatz zu dieser Zeit gab es auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 in Deutschland auch in den Leitmedien und in der Politik außerhalb des rechten Spektrums kaum kritische oder ablehnende Stimmen, die sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aussprachen (Evers/Klie 2018, 520).
Unabhängig von der Flüchtlingskrise ist in der jüngeren Vergangenheit auch das ehrenamtliche Engagement von Menschen mit Migrationserfahrung oder Migrationshintergrund zunehmend in den Interessenfokus von Wissenschaftlern und Politikern gerückt (Klie 2018, 429). Zum ehrenamtlichen Engagement zugunsten von Flüchtlingen durch Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben, gibt es indes bisher nur bruchstückhafte Erkenntnisse. Die Relevanz des Themas ist daher auch von dieser Seite als gesichert anzusehen.
Allgemeingültige Aussagen zu treffen, wird hingegen nicht nur durch die bereits erwähnte Begrenztheit der Minifallstudie erschwert, sondern auch durch die Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes. Menschen, die einen Migrationshintergrund besitzen oder selbst Migrationserfahrung haben, sind eine ausgesprochen diverse Gruppe mit vielen verschiedenen kulturellen und ethnischen Wurzeln (Klie 2018, 440). Aussagen, die für Menschen, die einen ostasiatischen Migrationshintergrund besitzen, zutreffend sein mögen, müssen nicht zwingend auch auf Menschen mit einem westafrikanischen Migrationshintergrund zutreffen. Es muss darüber hinausgehend begrifflich trennscharf unterschieden werden, zwischen „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Menschen mit Migrationserfahrung“. Ersterer Begriff ist in sofern weiter gefasst, da er Menschen, die selbst migriert sind und solche, die in Deutschland als Kinder von ein oder zwei Elternteilen geboren wurden, die migriert sind. Letzterer Begriff hingegen bezeichnet ausschließlich Personen, die tatsächlich selbst migriert sind und nicht in Deutschland geboren wurden (Vogel et al. 2017, 608). Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass gerade der Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ nicht unumstritten ist, und gerade die Menschen, auf die er angewendet wird, sich teilweise mit dieser Bezeichnung unzufrieden zeigen, da sie lebenslang „ein Anderssein und Nicht-Dazugehörigkeit“ (Klie 2018, 478) implizieren würde. Der Begriff „Menschen mit Fluchterfahrung“, der im Laufe des Blogeintrages ebenfalls verwendet wird, bezeichnet Personen, die nicht nur selbst migriert sind, sondern dies darüber hinaus taten, da sie aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Wenn im Folgenden von „Menschen mit Migrationserfahrung“ gesprochen wird, schließt dies „Menschen mit Fluchterfahrung“ ein.
Grundsätzlich gilt, dass ehrenamtliches Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund schwerer zu erfassen und messen ist, als solches von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Dies liegt auf der einen Seite daran, dass Menschen mit Migrationshintergrund sich oft außerhalb der in Deutschland gängigen Vereinsstrukturen engagieren. Ihr ehrenamtliches Engagement ist also informeller (Klie 2018, 429f.). Klie führt die Häufigkeit von ehrenamtlichen Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund, das außerhalb formeller Strukturen stattfindet, darauf zurück, dass diese Menschen sich häufig nur für Angehörige ihrer eigenen ethnischen und religiösen Ingroup engagieren (ebd.). Auf der anderen Seite rührt die schwierigere Messbarkeit von der persönlichen Definition ehrenamtlichen Engagements her. Nach Auffassung von Klie ist „ehrenamtliches Engagement“ ein typisch deutsches Phänomen, für das es in anderen Sprachen teilweise noch nicht einmal semantische Äquivalente gibt (ebd. 431). Es ist daher möglich, dass Erhebungen zum ehrenamtlichen Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund durch abweichende Engagementverständnisse verzerrt werden; also, dass Menschen mit Migrationshintergrund Tätigkeiten verrichten, die nach deutschem Verständnis als ehrenamtliches Engagement zu werten wären, jedoch von den Befragten nicht als solches aufgefasst werden und deshalb nicht in Studien erfasst werden können. Im Fall des ehrenamtlichen Engagements zugunsten Geflüchteter scheint es sich jedoch zumindest in unserer Fallstudie einfacher zu gestalten.
Für die gesamte Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lässt sich jedoch aus der Empirie zumindest sagen, dass sie im ehrenamtlichen Engagement im Vergleich zu Deutschen ohne Migrationshintergrund unterproportional vertreten sind. Als konkretes Beispiel ließe sich hier zum Beispiel die Gruppe der türkischstämmigen Menschen mit Migrationshintergrund anführen, von denen nur 10% in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert sind, was deutlich unter dem Drittel der Gesamtbevölkerung liegt, das sich engagiert (Huth 2012, 27). Die Bereiche, in denen sich Menschen in Deutschland engagieren, sind allerdings für Menschen mit wie ohne Migrationshintergrund zum großen Teil sehr ähnlich. Selbiges gilt für das regelmäßig fürs Engagement aufgewendete Zeitkontingent (Vogel et al. 2017, 623).
Da die Gruppe, die als „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet wird, wie oben beschrieben, sehr heterogen ist, bietet es sich an dieser Stelle möglicherweise an, eine Differenzierung an Hand anderer Trennlinien vorzunehmen, um pointiertere Aussagen treffen zu können. Da im oben stehenden Video die Frage nach der Rolle der Religion gestellt wird, und ein Großteil der seit 2015 nach Deutschland geflüchteten Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern, vor allem Syrien, stammen, erscheint es sinnvoll, die Daten, die die Empirie zum ehrenamtlichen Engagement von Menschen muslimischen Glaubens liefert, in die Erörterung einzubeziehen. Klie sieht (auf die Arbeiten von Sonja Haug et al. bezugnehmend) islamische Religiosität als Hemniss für zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland an (Klie 2018, 450). Ob diese Aussage für Engagement allgemein gilt, kann an dieser Stelle weder bestätigt noch verneint werden, aber sie deckt sich nicht mit den Erkenntnissen, die die Minifallstudie aus dem oben stehenden Video für das Engagement im Bereich der Geflüchtetenhilfe liefert. Die dort interviewten Personen geben die im Koran vorgeschriebene Hilfsbereitschaft gegenüber bedürftigen Mitmenschen als mitverantwortlich für ihre Entscheidung, sich für Geflüchtete zu engagieren, an. Wenn man die Erkenntnisse von Klie und aus der Minifallstudie des Videoclips zusammennimmt, lässt sich daraus die Hypothese ableiten, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die muslimischen Glaubens sind, sich eher in der Geflüchtetenhilfe engagieren könnten, als in anderen Bereich der Zivilgesellschaft.
Ein Problem bei der Mitarbeit von Menschen mit Migrationshintergrund in ehrenamtlichen Organisationen, sind die häufigen Sprachbarrieren, vor allem, was Fachtermini und Bildungssprache angeht, die auftreten können, wenn sich Personen mit und ohne Migrationshintergrund innerhalb einer Organisation engagieren. (Rabe-Matičević 2017, 7). Sandra Rabe-Matičević hat das Zusammenarbeiten von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in ehrenamtlichen Initiativen untersucht, die sich konkret mit der Geflüchtetenhilfe beschäftigen. Sie macht als Problem aus, dass Muttersprachler der deutschen Sprache gegenüber ihren Mitarbeitern innerhalb der gleichen Initiative, die Deutsch nur als Zweitsprache beherrschen, ein „protektiv-paternalistische Haltung“ (Rabe-Matičević 2017, 108) einnähmen. Das Problem der Sprachbarriere scheint also ehrenamtliches Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund zu kennzeichnen, unabhängig davon, ob es in einem Rahmen der Geflüchtetenhilfe oder einem anderen zivilgesellschaftlichen Teilbereich stattfindet. Allerdings liegt gerade im Bereich der Geflüchtetenhilfe in den über das Deutsche hinausgehenden Sprachkenntnissen auch einer der Vorteile, die Menschen mit Migrationshintergrund bei Engagement für Geflüchtete mitbringen.
Vogel et al. stellen bei ihrer Untersuchung zudem fest, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die sich im Rahmen formeller Organisationen engagieren, unterproportional selten eine Leitungsfunktion innehaben (Vogel et al. 2017, 622). Dies deckt sich zwar mit den Erkenntnissen der Minifallstudie aus dem obenstehenden Video, ist aber nur begrenzt aussagekräftig, da es sich im dort betrachten Fall um eine Organisation in kirchlicher Trägerschaft handelt. Da auch Moscheeverbände vielfach Initiativen zur Unterstützung Geflüchteter angestoßen haben, ist bei diesen zu vermuten, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die Leitungsfunktionen wahren, deutlich höher liegen dürfte.
Wie oben bereits erwähnt, liegen Verständnisse von Engagement zwischen einzelnen Ländern und Kulturen häufig weit auseinander. Klie nennt „[v]erschiedene [..] Auffassungen von Familie und Verwandtschaft sowie andere Verständnisse von Organisation, Staat und Gemeinden“, die bei Menschen mit Migrationshintergrund oder -erfahrung das ehrenamtliche Engagement in Deutschland prägen (Klie 2018, 431). Darin liegt jedoch im Bereich der Geflüchtetenhilfe meiner Meinung nach einer der großen Vorteile des ehrenamtlichen Engagements von Menschen mit Migrationshintergrund. Durch ihre Kenntnisse einer anderen Kultur als der deutschen sind sie besser in der Lage, Hilfsangebote zu machen, die von Geflüchteten aus außereuropäischen Kulturkreisen verstanden und angenommen werden können. Damit könnten sie einen wichtigen Beitrag zur Integration Geflüchteter leisten, indem sie diesen die in Deutschland von Ehrenamtlern zur Verfügung gestellten Leistungen von einem Standpunkt aus erklären, der formell in Vereinen organisiertes Engagement nicht als einzig mögliche Ausprägung kennt.
Ein weiterer Aspekt, der ehrenamtliches Engagement vor allem von Menschen, die selbst Migrations- bzw. Fluchterfahrung in ihrem Leben gesammelt haben, im Kontext der Geflüchtetenhilfe positiv von dem von Menschen ohne Migrationshinterhrund abhebt, ist, wie Rabe-Matičević 2017 bei ihrem Projekt in Mecklenburg-Vorpommern feststellte, die „persönliche Betroffenheit und differenziertere Wahrnehmung der zu betreuenden KlientInnen“ (Rabe-Matičević 2017, 7). Dies bedeutet, dass Menschen, die selbst Migrationserfahrung haben, besser als Deutsche ohne Migrationshintergrund die Bedürfnisse und Hürden für neu angekommene Geflüchtete einschätzen können.
Selbstverständlich gibt es im Umkehrschluss auch positive Effekte für die sich engagierenden Menschen mit Migrationshintergrund. Zivilgesellschaftliches Engagement dieser Personengruppe kann als Anzeichen gelungener Integration verstanden werden (Vogel et al. 2017, 602). Im Verständnis von Robert Putnam lässt sich dies als „bridging social capital“ bezeichnen, dass, in Abgrenzung von dem von Putnam so genannten „bonding social capital“ die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund und die der Menschen ohne näher zusammenbringt, und somit eine integrative Funktion besitzt (Putnam 2000, zitiert nach Klie 2018, 472). Gerade im Fall von Geflüchteten, die sich für neu angekommene Geflüchtete engagieren, spielt nach Ansicht von Rabe-Matičević auch häufig die Hoffnung, durch das eigene Engagement eine positive Anerkennung der eigenen Person oder zumindest der eigenen Qualifikationen im neuen Wohnland, eine Rolle (Rabe-Matičević 2017, 7). Es ist jedoch nicht jedes ehrenamtliche Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund automatische von integrationsfördernder, im Sinne von Putnam als „bridging“ zu bezeichnender Natur. Ein Beispiel von Engagement, das primär von Menschen mit Migrationshintergrund betrieben wird, und nicht als integrationsfördernd eingestuft werden muss, ist beispielsweise solches, dass in salafistischen Kontexten stattfindet (Klie 2018, 430).
Man kann zusammenfassend also sagen, dass das ehrenamtliche Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich im Bereich der Geflüchtetenhilfe engagieren, vielfach durch ähnliche Phänomene gekennzeichnet zu sein scheint, wie jenes von Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in anderen Bereich der Zivilgesellschaft engagieren. Es fällt allerdings auch auf, dass der hier betrachtete Engagementbereich einen Sonderfall darstellt, da die Menschen mit Migrationshintergrund, die sich in ihm betätigen, einen anderen, persönlicher eingefärbten Zugang zu der Thematik haben, als bei den herkömmlichen Engagementfeldern.
Ein Beitrag von Leon Ritter
Bibliographie der verwendeten Quellen
Evers, Adalbert und Klie, Anna Wiebke (2018), „Flüchtlinge und Engagement“, in: Klie, Thomas und Klie, Anna Wiebke (Hrsg.), Engagement und Zivilgesellschaft: Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht, Wiesbaden, S. 513-546.
Huth, Susanne (2012), „Bürgerschaftliches Engagement von älteren MigrantInnen“, in: Heinrich-Böll-Stiftung, Altern in der Migrationsgesellschaft, S. 27-31.
Klie, Anna Wiebke (2018), „Migration und Engagement“, in: Klie, Thomas und Klie, Anna Wiebke (Hrsg.), Engagement und Zivilgesellschaft: Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht, Wiesbaden, S. 425-512.
Rabe-Matičević, Sandra (2017), „Ergebnisbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung des Qualifizierungsprojekts von Flüchtlingsbegleiterinnen und Flüchtlingsbegleitern im Ehrenamt und Sozialbetreuerinnen und Sozialbetreuern als Integrationshelfer für Asylbewerber und Flüchtlinge im Hauptamt“, http://rosdok.uni-rostock.de/file/rosdok_document_0000010751/rosdok_derivate_0000038146/RabeMaticevic_Ergebnisbericht_2017.pdf, letzter Zugriff: 12. September 2018.
Vogel, Claudia, Simonson, Julia und Tesch-Römer, Clemens (2017), „Freiwilliges Engagement und informelle Unterstützungsleistungen von Personen mit Migrationshintergrund“, in: Vogel, Claudia, Simonson, Julia und Tesch-Römer, Clemens (Hrsg.), Freiwilliges Engagement in Deutschland Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014, Wiesbaden, S. 601-634.